Aion

Wir feiern heute in der Orthodoxie (alter Kalender) den Gedenktag des Heiligen Hl. Märtyrers Longinus.

Siehe:

https://de.wikipedia.org/wiki/Longinus

https://orthpedia.de/index.php/Longinos,_der_Centurio,_der_am_Kreuz_des_Herrn_stand,_M%C3%A4rtyrer

Dieser war ein Abbild für die Ewigkeit.

– Aber was ist Ewigkeit? Die schlechte Unendlichkeit: Nein!

Ich führe aus: Aion (griech. im Neuen Testament) ist lt.“Wörterbuch der antiken Philosophie“ (Hrsg. von Christoph Horn und Christof Rapp) lat. aevum, aitearnum, aiternitas, auch: sempiaeternitas, perperpetuas) „Die Auffassung von a. als eigenständiger Hypostase (Gottes) findet sich in einem Fragment des Gnostikers Valentius (2.  Jhd. n. Chr.; frg. 5) … Dieses findet sich auch in Corpus Hermeticum XI, wo die Reihe Gott – A. – Kosmos – Zeit Werden aufgestelllt wird. Dier Gott A. spielt auch in den Chaldäischen Orakeln eine Rolle (z.B. Orac. Charld, frg.49). A. war damit ein Begriff aus der damaligen Popularphilosphie. Er lässt sich sich schwer übersetzen. „In die Ewen der Ewen“ – so die Übersetzung des griechischen Gebetbuches der orthodoxen Kirche hilft uns nicht weiter. Sie ist schlicht unverständlich.

Es handelt sich meiner Auffassung nach um ein Mysterium. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sagte im „Tractatus Logicus Philosphicum“: Worüber man nicht sprechen kann, solle man schweigen.

In diesem Sinne. Ein endlicher Mensch – der manchmal die Klappe halten und die Zunge in Zaum halten muss.

PS: Auch Martin Heidegger hilft uns hier m.A.n. nicht weiter. Er krankt an der verwirrenden Verschränkung von „schlechter Unendlichkeit“ und ewigem Leben. Daher bei ihm auch die falsche Definition von „Wahrheit“ (alitheia) als „Entbergung“. Das Myterium hat er nie verstanden. Der Philosoph Josef Pieper hat dies aufgedeckt (ich zitiere ihn aus mehrereren Stellen in seinem Werk) – Von dem „Thomismus“ von Josef Pieper distanziere ich mich selbstverständlich:

 

Wenn man irgendein philosophisches Buch dieser gegenwärtigen Epoche durcharbeitet, wird einem so gut wie sicher der Begriff oder gar der Ausdruck »Wahrheit der Dinge«, nicht begegnen. Das ist nicht ein Zufall; es gibt im durchschnittlichen philosophischen Denken dieser unserer Zeit gar keinen Platz für diesen Begriff; er ist sozusagen »nicht vorgesehen«. Wahr zu sein: das kann ausgesagt werden von Gedanken, von Ideen, von Sätzen, von Ansichten – aber nicht von Dingen. Unsere Beurteilung der Wirklichkeit kann wahr sein (oder auch falsch); aber die Wirklichkeit selbst, die »Dinge« wahr zu nennen, das erscheint als geradezu sinnlos, als Unsinn; die Dinge sind wirklich, aber nicht »wahr«! – Wenn man dieses Faktum historisch betrachtet, dann zeigt sich, daß es viel mehr bedeutet als die bloße Nichtverwendung eines bestimmten Begriffs oder eines bestimmten Terminus; es handelt sich nicht bloß um die sozusagen »neutrale« Abwesenheit einer bestimmten Betrachtungsweise. Vielmehr ist diese Nichtverwendung und Abwesenheit des Begriffs »Wahrheit der Dinge« das Resultat eines langen Prozesses der Unterdrückung und der Unterschlagung oder, um es zunächst einmal weniger aggressiv zu sagen: der Ausscheidung.
In der großen Tradition der westlichen Philosophie, deren Repräsentanten unter anderen Pythagoras und Platon sind, aber auch Aristoteles, Augustin, Thomas von Aquin; in den zwei Jahrtausenden, die zwischen dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert und dem Beginn der »Neuen Zeit« liegen, als den wir die »Renaissance« des 15./16. Jahrhunderts zu bezeichnen pflegen – in dieser langen und grundlegenden Epoche hat der Begriff »Wahrheit der Dinge« als ein sehr wichtiger und geradezu fundamentaler, die Wurzel des Wirklichkeitsverständnisses betreffender Begriff gegolten; obwohl es zu allen Zeiten einigermaßen schwierig gewesen zu sein scheint, ihn lebendig zu vollziehen (im 11. Jahrhundert finden wir schon die Klage: »Die Wahrheit, die in den Dingen selber wohnt, bedenken nur wenige«; es ist Anselm von Canterbury, der das sagt, in seinem Dialog über die Wahrheit). Immerhin wird man in der Antike |
382 und im Mittelalter kaum ein großes Werk metaphysischen Inhalts antreffen, in welchem dieser Begriff »Wahrheit der Dinge« nicht eine zentrale Stelle hätte. Platon vor allem hat gesagt: die Wahrheit sei das Beste, to ariston, das Edelste in den Dingen. Und die großen Lehrer des Mittelalters, vor allem Thomas von Aquin, den man ja wohl als den letzten bedeutenden Magister der noch ungeteilten abendländischen Christenheit bezeichnen darf, dessen Aktualität faktisch noch immer unerschöpft ist – Thomas hat eine sehr differenzierte Begrifflichkeit entwickelt, um dem Gedanken von der Wahrheit der Dinge, von der ontologischen Wahrheit (so sagt man meistens), den gebührenden Platz zu geben; wahrscheinlich wäre es sinnvoller, von der »ontischen« Wahrheit zu reden, im Unterschied zu der logischen oder Erkenntniswahrheit.
In der Neuen Zeit also, in der Zeit vom Beginn des 15. Jahrhunderts bis, sagen wir, zu der Epoche Immanuel Kants ist dem Begriff Wahrheit der Dinge zweierlei widerfahren: Das eine ist die ausdrückliche polemische Ablehnung dieses Begriffs und übrigens auch einiger anderer metaphysischer Grundbegriffe, die eng mit ihm zusammenhängen. Die meisten Philosophen des sogenannten Humanismus (des 15./16. Jahrhunderts) behaupten, es sei einfachhin sinnlos, nicht eigentlich »falsch«, sondern schlechterdings nicht sinnvoll, es gebe keinen auch nur diskutierbaren Sinn, zu sagen, die Dinge seien wahr. Francis Bacon, Thomas Hobbes, Descartes, Spinoza – sie alle sind dieser Meinung. Hobbes nennt die Lehre von der Wahrheit der Dinge leer und kindisch. Spinoza sagt, der Begriff könne höchstens im Sinn einer Redensart, »rein rhetorisch« als zulässig gelten; von irgendeinem Anspruch auf exakte begriffliche Bedeutung könne keine Rede sein. Wer die Dinge »wahr« nenne, so heißt es bei Spinoza, tue so »als ob«; er nehme die Dinge so, als könnten sie reden, während sie doch in Wirklichkeit natürlich stumm seien. Von dieser sehr folgenreichen und einigermaßen unheimlichen Formulierung (»die Dinge sind stumm«) wird noch einmal kurz zu sprechen sein.
Außer der klaren und formellen polemischen Ablehnung passiert aber dem Begriff »Wahrheit der Dinge« noch etwas Zweites; es ist eigentlich das Schlimmere und Gefährlichere. Ich meine dies: daß der Begriff oder vielmehr der Ausdruck »Wahrheit der Dinge« zwar äußerlich bewahrt und beibehal|ten
383 wird, während er zugleich in Wirklichkeit verfälscht, jedenfalls seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt wird – mit der höchst erwartbaren Konsequenz, daß der Begriff seine wirklichkeitsaufschließende Kraft, seine Tiefe und sein Salz verlieren mußte. Dies ist es, was vor allem in der Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts und in der sogenannten Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts passiert; die Aufklärung hat sich selbst ja weithin fälschlich als Weiterführung der großen Tradition verstanden oder ausgegeben; Christian Wolff z.B. hat von sich selbst behauptet, er sei viel mehr in der Linie des Thomas von Aquin als in der von Leibniz.
Was jedenfalls den Begriff »Wahrheit der Dinge« betrifft, so wird es auf diese Weise unvermeidlich und zugleich auch verständlich, was in Kants Kritik der reinen Vernunft dann schließlich mit ihm geschieht. Kant hat den Begriff »Wahrheit der Dinge« zum letztenmal einer ernsthaften und genauen Prüfung unterzogen (»ein Gedanke« – so heißt es bei ihm – »der sich so lange Zeit erhalten hat« [wenn man ihn in der Metaphysik auch »beinahe nur ehrenhalber« aufstelle], verdiene doch immer eine Untersuchung seines Ursprungs). Das Einzelne dieser Kantischen Untersuchung kann hier nicht näher erörtert werden. Das entscheidende Resultat ist jedenfalls, kurz gesagt, daß Kant den Begriff »Wahrheit der Dinge« endgültig aus dem philosophischen Vokabular ausscheidet als einen, wie er sagt, sterilen und tautologischen Terminus, um den es sich nicht weiter lohnt. – Ebendies ist noch immer der Stand der Dinge; man findet den Begriff in der philosophischen Literatur dieser unserer Zeit durchweg nicht einmal erwähnt.
Nun gut, aber was ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs »Wahrheit der Dinge«; was besagt es denn genau, die Dinge, das Wirkliche selber wahr zu nennen? – Ich will versuchen, diese Frage so klar wie möglich zu beantworten. Doch möchte ich diesem Versuch zwei Bemerkungen vorausschicken. Erstens gehört der Begriff »Wahrheit der Dinge« zu einem ganzen Gefüge, sozusagen zu einem Sternbild verwandter Begriffe, von denen des Näheren hier zu sprechen aber schlechthin unmöglich ist. Das bedeutet, daß der ganze Zusammenhang und die volle Erstreckung der Lehre von der Wahrheit der Dinge hier nicht entfaltet werden kann. Vielmehr muß ich mich beschränken auf die Erörterung einzelner wichtiger Punkte. – |
384 Zweitens habe ich im Sinn, dabei vor allem eine bestimmte Formulierung dieser Lehre vor die Augen zu bringen, nämlich die, welche das Werk des Thomas von Aquin enthält. Freilich kann von diesem philosophisch-theologischen Denker des 13. Jahrhunderts gesagt werden, daß ihm, dem »allgemeinen Lehrer« (wie er genannt wird), ein wirklich einzigartiger Rang der Zeugenschaft zukommt – nicht so sehr wegen seiner persönlichen Genialität, sondern wegen der wahrhaft schöpferischen Selbstlosigkeit, mit der er in seinem Werke die polyphone Vielfalt der sinnvoll möglichen Weltaussagen zu Wort bringt und sogar noch dazu auffordert, über seine eigene historische Bedingtheit hinauszudringen. So spricht in der Summa theologica nicht so sehr der individuelle Autor Thomas von Aquin (obwohl natürlich jene Selbstlosigkeit eine schlechthin außergewöhnliche Klärungsenergie des eigenen Denkens voraussetzt) – es spricht, sage ich, nicht so sehr dieser individuelle Professor der Universität Paris, sondern es spricht der Mund der großen menschlichen Weisheitsüberlieferung selbst.
Also, noch einmal, was heißt »Wahrheit der Dinge«? – Punkt eins: »Wahrheit« bedeutet hier nichts anderes, als was sonst der Begriff »Wahrheit«, ganz allgemein, gleichfalls bedeutet! Wenn ich die Dinge »wahr« nenne, und wenn ich einen Gedanken oder eine Aussage »wahr« nenne – in beiden Fällen spreche ich von der gleichen Qualität. Und was bedeutet diese Qualität? Zunächst ist Wahrheit nicht etwas abgetrennt Abstraktes; Wahrheit ist etwas, das wesentlich mit einem Intellekt verknüpft zu denken ist, genauer gesagt, mit einem Wesen, das fähig ist, geistig zu erkennen. Wahrheit ist etwas, das zustande kommt durch den Akt eines Intellekts, durch den Akt geistigen Erkennens. Anderseits hat Wahrheit eine wesentliche Beziehung zur objektiven Realität. Es kann keine Rede sein von Wahrheit, und tatsächlich redet auch niemand von Wahrheit – wenn nicht die Rede ist von einem erkennenden Subjekt, von einem mindestens der Erkenntnis fähigen Subjekt einerseits und zugleich von etwas objektiv Wirklichem, das der Gegenstand von Erkenntnis sein könnte anderseits. Wahrheit ist die Beziehung zwischen erkennendem Geist und objektiver Realität, die durch den Akt des Erkennens zustande kommt. Und was passiert, indem wir erkennen? Was ist der Unterschied zwischen erkennenden und nichterkennenden Wesen? Ich ant|worte
385 darauf, indem ich, nahezu wörtlich, Thomas von Aquin zitiere: Nichterkennende Wesen, d.h. Wesen, die ihrer Natur nach nicht fähig sind zu erkennen, sind eingeschränkt auf ihre eigene Natur und Wesenheit; sie sind sie selber und nichts sonst; wohingegen erkennende Wesen nicht auf das eingeschränkt sind, was sie selber sind; sie haben nicht nur ihre eigene Natur und Wesenheit, sondern sie sind imstande und fähig, die Wesenheiten auch anderer Dinge zu haben; sie haben nicht geschlossene, sondern offene Grenzen; sie sind darauf angelegt, in sich selber einzulassen und aufzunehmen alles, was ihnen an objektiver Realität begegnet. Die Fähigkeit geistigen Erkennens ist überhaupt nichts anderes als diese Empfänglichkeit, die offen ist für das Ganze der Wirklichkeit. Wir haben gefragt: Was passiert, indem wir erkennen? Es passiert, daß der Erkennende die Wesenheit eines objektiv wirklichen Dinges ergreift, sie hineinnimmt in den Innenraum seiner selbst und sie dort festhält und aufbewahrt. Wie des näheren dieses Ergreifen und Hineinnehmen und Festhalten und Aufbewahren sich zuträgt – das ist nicht leicht zu beschreiben. Immerhin läßt sich sagen, daß durch den Erkenntnisakt eine besondere Art von Übereinstimmung, eine gewisse Stimmigkeit, Konformität, Identität, Gleichheit zustande kommt, eine Übereinstimmung zwischen dem, was »draußen« ist, außerhalb des erkennenden Subjekts, also dem objektiv Wirklichen (einerseits) und dem (anderseits), was »drinnen« ist, was nunmehr, durch den Erkenntnisakt, als Vorstellung, Begriff, Gedanke, Urteil usw. drinnen ist, innerhalb des erkennenden Subjekts. Es kommt das zustande, was die Alten adaequatio rei et intellectus genannt haben, die Gleichung von Sache und Erkenntnis.
Diese Gleichung und Übereinstimmung ist durch zwei Feststellungen näher charakterisierbar. Erstens: die Übereinstimmung ist zustande gekommen durch gar nichts anderes als durch die Aktivität des Intellekts, d.h. des erkennenden Subjekts. Zweitens: im Hinblick auf den Inhalt der Gleichung (und Übereinstimmung) ist dennoch nicht das Subjekt von entscheidender Bedeutung; vielmehr richtet sich das Subjekt gerade nach dem objektiv Wirklichen; es muß sich nach dem Objekt richten (sonst würde niemand von wirklicher Erkenntnis sprechen; und wirkliche Erkenntnis ist genau dasselbe wie »wahre« Erkenntnis).
386 Die Alten, und in besonderer Weise wiederum Thomas von Aquin, verwenden hier den Begriff des Maßes, des Maßgebens und des Maßempfangens; mensura, mensurare, mensurari. Dieser uralte Begriff des Maßes, der sicher bis zu Pythagoras zurückzuverfolgen ist, hat klarerweise eine nichtquantitative Bedeutung, wie ja unsere Worte »gemäß« oder auch »maßgebend« gleichfalls etwas Nichtquantitatives meinen. Das wichtigste Element dieses Begriffs ist eine besondere Art von Ursächlichkeit; es ist die Art von Ursächlichkeit, die dem Urbild zukommt in bezug auf das Abbild, dem Original in bezug auf die Kopie, dem Entwurf in bezug auf das »nach« und »gemäß« dem Entwurf Gemachte. Urbild, Original, Entwurf sind maßgebend; Abbild, Kopie, das nach einem Entwurf Gemachte sind das Maßempfangende. Durch dieses Maßgeben und Maßempfangen aber kommt eine bestimmte Art von Gleichung, Stimmigkeit, Übereinstimmung, ja Identität zustande; wir würden ja – ohne solche Identität – gar nicht von einem Bilde, erst recht nicht von einem Abbild reden!
Genau diese Art von Identität aber, von Übereinstimmung, Stimmigkeit, Gleichförmigkeit – genau diese adaequatio (zwischen objektiver Realität und erkennendem Geiste) ist im Begriff »Wahrheit« gemeint. Wenn ich einen Satz oder einen Gedanken »wahr« nenne, dann meine ich damit, dieser Satz, dieser Gedanke habe, obwohl er allein durch die Aktivität des erkennenden Subjekts zustande gekommen ist, dennoch sein Maß empfangen von der objektiven Realität der Dinge – so daß nunmehr zwischen dem objektiv Wirklichen und dem Gedanken genau die Art von Identität besteht, die wir unvermeidlich vor Augen haben, sobald wir an die Beziehung zwischen Urbild und Abbild, zwischen Entwurf und Entworfenem, zwischen Original und Kopie denken.
Und jetzt die eigentliche Frage: Was für einen Sinn soll es haben, die Dinge, das objektiv Wirkliche selbst, »wahr« zu nennen? Die Antwort ist eigentlich schon gegeben. Wenn ich die Dinge »wahr« nenne, dann habe ich damit behauptet, daß – erstens – auch in den Dingen überhaupt eine Beziehung zu einem Erkennenden realisiert sei; und zwar – zweitens – eine Beziehung von solcher Art, daß zwischen beiden, dem Ding einerseits und dem Erkennenden anderseits, eben jene Identität, Gleichung, Übereinstimmung von Urbild und Abbild bestehe, |
387 jene adaequatio rei et intellectus, die den Begriff »Wahrheit« ausmacht.
Die Frage ist natürlich: gibt es so etwas? Gibt es Dinge, welche die Abbilder eines urbildlichen Gedankens sind; gibt es Gedanken, welche der Entwurf von Dingen sind, »nach« und »gemäß« diesem Entwurf gemacht sind? Gibt es so etwas wirklich: daß die Gedanken maß-gebend und die Dinge maß-empfangend wären? Diese Frage ist, wie leicht zu sehen ist, identisch mit der Frage: Gibt es schöpferisches Erkennen, gibt es die Hervorbringung von Wirklichem durch Erkennen, gibt es erdenkendes Erkennen?
Darauf muß zunächst einmal die sehr naheliegende Antwort gegeben werden, daß offenbar alle vom Menschen gemachten Dinge, sowohl die Werke der Technik (Autos, Brücken, Häuser) wie auch die Werke der Kunst (Gedichte, Symphonien, Bilder) tatsächlich ihr Maß empfangen haben vom schöpferischen Erkennen des Künstlers bzw. des Konstrukteurs; was bedeutet, daß alle diese Werke tatsächlich, durch sich selbst, in jener »Identitäts«-Beziehung zu einem erkennenden Geiste stehen, in welcher der Geist, der Gedanke, das Urbild ist (der Entwurf, das Original), und das nunmehr als objektive Realität dastehende Werk das Abbild (das Entworfene, die Kopie). Die »künstlichen« Dinge, d.h. die vom Menschen gemachten Dinge sind, was sie sind, tatsächlich auf Grund ihrer Übereinstimmung mit dem vorausliegenden Entwurf, der im schöpferisch erkennenden Geiste des entwerfenden Künstlers wohnt.
An diesem Punkt eine wichtige Nebenbemerkung: Ich sagte, die künstlichen Dinge, die res artificiales, seien, was sie sind, kraft der Übereinstimmung mit dem Entwurf. Es ist hier also einzig von der Wesenheit der Dinge die Rede, von ihrer Washeit, von ihrer Essenz, nicht von ihrer Existenz. Die Dinge kommen klarerweise nicht schon ins Dasein durch die bloße Tatsache, daß sie entworfen sind; dazu braucht es noch etwas anderes, z.B. die Aktivität des Willens und auch der Hände! Immerhin, der Entwerfer, Konstrukteur oder Erfinder, sagen wir, eines neuartigen Motors, hätte nicht völlig unrecht, wenn er – bevor noch das erste wirkliche Modell gebaut ist – auf die Konstruktionszeichnung zeigen und sagen würde: Hier ist er, der neue Motor.
388 Aber zurück zum Begriff »Wahrheit«! Man könnte sehr wohl, obwohl es nicht mehr lebendiger Sprachgebrauch ist, eine Brücke, ein Haus, ein Bildwerk »wahr« nennen, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß diese Werke sich wirklich in Übereinstimmung befinden mit dem Urbild im Geiste des Entwerfers. Dieser selbst vor allem, der Künstler also oder der Konstrukteur, der schließlich am ehesten imstande ist, darüber zu urteilen, ob solche Übereinstimmung mit dem Entwurf wirklich zustande gekommen ist oder nicht – der Künstler könnte sehr wohl, hinblickend auf sein eigenes Werk, sagen: Ja, es ist das geworden, was mit ihm gemeint war; es »stimmt«, d.h. es stimmt »zu« dem oder »überein« mit dem, was ich mir gedacht hatte; es ist »wahr« (oder auch: es ist nicht »wahr«). – Natürlich kommt es nicht auf die Vokabel (»wahr«) an! Worauf es aber sehr ankommt, ist, daß der Sachverhalt, den diese Vokabel meint, nicht aus dem Bewußtsein verschwindet! Gemeint aber ist mit der Vokabel »Wahrheit der Dinge«: daß tatsächlich diese gleiche Beziehung der Identität (von Sache und Erkenntnis, von res und intellectus), welche die Wahrheit eines Satzes begründet und ausmacht, genau ebenso auf der Seite der Dinge, der res, des objektiv Wirklichen angesiedelt sein kann – zum Beispiel in all den technischen oder künstlerischen Werken, die nach einem menschlichen Entwurf gemacht sind und die nunmehr sind, was sie sind, auf Grund ihrer Übereinstimmung mit dem Urbild (Entwurf, Original) im schöpferisch erkennenden Geiste des Entwerfers.
»Zum Beispiel« in den von Menschen gemachten Werken – sagte ich. Natürlich wird der Begriff »Wahrheit der Dinge« erst wirklich belangreich, sobald nicht mehr von den res artificiales die Rede ist, sondern von den »natürlichen« Dingen, die der Mensch nicht gemacht hat, die er vielmehr in der Welt vorfindet. Konkreter gesprochen, der Begriff »Wahrheit der Dinge« bekommt seine entscheidende Wichtigkeit erst in dem Augenblick, in dem er ausgesagt wird von der objektiven Realität von Stein, Pflanze, Tier und vor allem vom Menschen selbst!
Noch einmal eine kurze Nebenbemerkung: Die vor-neuzeitliche Philosophie (und auch Theologie) hat diesen Unterschied (zwischen res naturales und res artificiales, man kann auch sagen: zwischen geschaffenen und gemachten Dingen) sehr stark akzentuiert. Und wir werden noch davon sprechen, daß sie sich |
389 damit in einer sehr überraschenden Übereinstimmung befindet mit der unmittelbar zeitgenössischen, sozusagen nach-neuzeitlichen Philosophie, z.B. mit dem Existenzialismus Sartrescher Prägung. Das neuzeitliche Philosophieren hingegen selbst (zwischen dem vor-neuzeitlichen, antiken wie mittelalterlichen, und dem modernen Denken) hat jene Unterscheidung zwischen künstlicher und natürlicher Wirklichkeit kaum der Erwähnung für wert gehalten; jedenfalls wird diese Unterscheidung in keiner Weise akzentuiert. Dem neuzeitlichen Bewußtsein scheint es, im Gegenteil, besonders »realistisch« vorzukommen, von Fluß, Wald, Gebirge einerseits und Brücke, Fabrik, Stadt anderseits als von der einen Realität, als von »unserer Welt« zu reden.
Die Frage ist nun freilich, ob wirklich dieser Begriff »Wahrheit« sinnvollerweise von den natürlichen Dingen, vor allem vom Menschen selbst, ausgesagt werden könne. Natürlich ist das nur dann möglich, wenn es zutrifft, daß die res naturales gleichfalls ihr Maß empfangen haben von einem Entwurf her, der in einem schöpferischen Geiste seinen Ort hat. – Platon hat bekanntlich gedacht und gesagt, daß dies sich wirklich so verhalte. Er beginnt so, daß er höchst anschaulich vom Weberschiffchen spricht. Wenn so ein Weberschiffchen in Stücke gegangen ist und der Weber versucht, ein neues zu machen, wohin blickt er dann – auf die Bruchstücke, die da am Boden liegen oder auf den Entwurf (die Konstruktionszeichnung), wonach auch das zerbrochene Weberschiffchen gemacht war? So beginnt, sagte ich, Platon deutlich zu machen, was er unter einer »Idee« versteht; die »Idee« ist für ihn nichts anderes als der »Entwurf«. Und dann fährt er fort mit der Behauptung, daß nicht nur das Weberschiffchen, nicht nur die vom Menschen gemachten, »künstlichen« Dinge, nein, alle Dinge und Wesen, eingeschlossen der Mensch selbst, gleichfalls nach einem »Entwurf« gemacht seien. Genau das ist die eigentliche Bedeutung der »Ideenlehre« Platons. – Dieser gleichen Überzeugung, daß allen Dingen ein Entwurf vorausliege, ist natürlich erst recht, wer immer die Welt als creatura versteht; denn das heißt nichts anderes, als daß die Welt und alles in ihr nach einem Urbild gemacht sei, das im schöpferischen Geiste Gottes wohnt.
Auf unser Thema bezogen bedeutet dies: auf Grund der Tatsache, daß die Welt Schöpfung ist, realisieren alle Dinge, durch |
390 ihr Sein selbst, jene Übereinstimmung mit einem Erkennen, jene adaequatio rei et intellectus, die den Begriff der Wahrheit formell ausmacht. Und in der Tat, dies und nichts anderes ist der Grund, und zwar der einzige, den es gibt, weswegen alle Dinge im strikten Sinn »wahr« heißen und sind: omne ens est verum; alles, was ist, ist wahr.
An diesem Punkt könnte einer einwenden: Bedeutet aber dann nicht dieser Satz nichts weiter, als daß Gott die Welt erschaffen hat; ist er also nicht, genaugenommen, eine Aussage über Gott und bestenfalls noch über sein Verhältnis zur Welt, aber nicht eine Aussage über die Dinge? Nein, er sagt durchaus etwas über die Dinge selbst; Wahrheit ist eine Qualität der Dinge, aller Dinge. Ich will versuchen, das zu zeigen.
Man kann das Wirklichsein nicht definieren; es gibt keine Definition des Begriffs »wirklich«. Aber es ist möglich, zu beschreiben und zu umschreiben, was es heißt, »wirklich« zu sein. Man kann das zu umschreiben versuchen zum Beispiel dadurch, daß man Synonyma nennt für das Wort »wirklich«, also andere gleichbedeutende oder fast gleichbedeutende Worte und Namen. Und »wahr« ist in der Tat ein Synonym für »wirklich«. Die Alten haben nicht nur gesagt: »alles, was ist, ist wahr«, sondern auch: »wahr und wirklich sind vertauschbare Namen«. Solch ein »Zweites Wort«, ein Synonym muß zwei Bedingungen erfüllen; es muß erstens von genau den gleichen Dingen ausgesagt werden können wie das erste Wort; es muß vertauschbar sein gegen das erste Wort. Zweitens muß es dennoch an dem Ding, wovon es ausgesagt wird, einen besonderen Aspekt benennen, der in dem ersten Wort noch nicht ausdrücklich benannt ist. – Wenn also der Name »wahr« tatsächlich ein Synonym für den Namen »wirklich« ist, dann heißt das, daß er tatsächlich etwas aussagt über die Dinge selbst – und zwar etwas, das erstens von genauso vielen Dingen ausgesagt werden kann wie auch der Name »wirklich« (das heißt: von allen Dingen), darüber hinaus aber – zweitens – ein Plus, das der Name »wirklich« noch nicht ausdrücklich zur Sprache bringt. Dieses Plus aber ist das Bezogensein der Dinge auf den vorausliegenden Entwurf des schöpferischen Erkennens, eben die adaequatio rei et intellectus, die Übereinstimmung (aller Dinge) mit einer schöpferischen Erkenntnis. Und damit ist sehr wohl eine Qualität der Dinge selbst gemeint! Weil nämlich die Dinge ihren Ur|sprung
391 haben im schöpferischen Entwurf des Wortes Gottes, des Logos, darum sind die Dinge selber logosartig, sie sind selber etwas Gedachtes und sogar etwas Gesprochenes; sie haben selber »Wortcharakter«, wie Guardini es ausdrückt; sie sind licht, luzid, offenbar, betretbar und sozusagen durchsichtig. (Heidegger hat bekanntlich das griechische Wort alêtheia – Wahrheit so gedeutet, daß es ursprünglich Unverborgenheit, Offenbarkeit besage; das ist nach Ansicht der Philologen zwar eine fragwürdige Worterklärung; aber sachlich ist damit genau die alte Bedeutung des Begriffs »Wahrheit der Dinge« getroffen.) Damit ist allerdings auch schon klar, daß es sich zugleich um eine Beziehung zum menschlichen Geist handelt. »Wahrheit der Dinge« besagt nicht nur: Erdachtsein durch den Logos Gottes, sondern zugleich (und auf Grund hiervon): Erkennbarsein für den menschlichen Geist!
Und auch diese Erkennbarkeit ist gemeint als eine Qualität der Dinge selber; es ist also nicht nur gesagt, der menschliche Geist sei imstande, die Dinge zu erkennen, sondern: es sei den Dingen eigentümlich, erkennbar zu sein. Das Wort »Erkennbarkeit« hat sprachgebräuchlich eine gewisse Zweideutigkeit. Wir sagen z.B., die Sterne seien am hellen Tage nicht erkennbar – obwohl doch klar ist, daß die Sterne selber sich nicht ändern, ob nun die Sonne scheint oder nicht. »An sich« sind sie bei Tage genauso sichtbar wie bei Nacht; nur sind unsere Augen nicht fähig, sie bei Tage zu sehen. So auch bedeutet die prinzipielle Erkennbarkeit aller Dinge nicht, daß unser menschlicher Geist sie tatsächlich erkennen kann; sie bedeutet, daß die Dinge, und zwar alle Dinge, von sich aus, soweit es auf sie ankommt, so »gebaut« sind, daß sie Gegenstand von Erkenntnis sein können.
Einer meiner Kollegen, ein berühmter Logistiker, der vor einigen Jahren verstorbene Heinrich Scholz, hat mich einmal gefragt: Was würde denn schon passieren, wenn wir annähmen, es gebe in der objektiven Realität Dinge und Sachverhalte, die nicht erkennbar sind, prinzipiell nicht? Würde denn der Himmel einstürzen, wenn es von Natur dunkle, schlechthin undurchdringliche, jeder möglichen Erkenntnis Widerstand leistende Dinge gäbe? Wenn also nicht gälte: omne ens est verum? Er wies dann hin auf einige Probleme der modernen Physik, die nicht bloß faktisch, sondern prinzipiell unlösbar zu sein schei|nen.
392 – Ich habe ihm die Gegenfrage gestellt: Hat also die physikalische Forschung ihrerseits jeden Versuch aufgegeben, der Sache auf den Grund zu kommen? – Natürlich nein! – Bedeutet das aber nicht, daß man also annimmt, auf der Seite des objektiven Sachverhalts liege doch eine immer noch weiter auszuschöpfende Erkennbarkeit vor? Genau dies aber ist auch der Sinn des Satzes, daß die Dinge wahr seien. Man kann diesen Satz durchaus auch so formulieren: Forschung hat Sinn; es lohnt sich, weiter zu forschen und niemals zu kapitulieren. Wer das sagt, der sagt im Grunde genau dasselbe wie: omne ens est verum, alle Dinge sind wahr, das heißt, was sie selber betrifft, erkennbar bis auf den Grund.
Zusammengefaßt also bedeutet die Lehre von der »Wahrheit der Dinge« das Folgende: Alle Dinge sind schöpferisch erkannt durch Gott, und dadurch sind sie erkennbar für den endlichen Geist. Es gehört zur Natur des Wirklichen, ein mögliches Objekt menschlicher Erkenntnis zu sein. – Es gibt also gar nicht eine völlige Abtrennung der objektiven Realität gegen den menschlichen Intellekt; schon bevor wir unseren Blick auf die Welt der Dinge richten, ist da schon, voraus und zuvor, eine Beziehung. Die Dinge sind eben nicht »stumm«, wie Spinoza sagt. Sie sind sehr wohl vernehmlich; sie lassen uns wissen, was sie sind. – Allerdings sollte man nicht vergessen, daß diese Tatsache nicht verständlich ist und nicht erklärt werden kann – es sei denn, man bedenkt, daß die Dinge von Natur, durch ihr Sein selber, licht sind kraft ihres Ursprungs aus dem archetypischen Licht des Göttlichen Logos. Die Dinge sind erkennbar, weil Gott sie schöpferisch gedacht hat. Ihre innere Klarheit und Luzidität, ihre Kraft, sich selber zu zeigen, ist vom schöpferischen Geiste Gottes her zugleich mit ihrem Sein, ja, als ihr Sein selbst, in sie eingeströmt.
An diesem Punkt freilich tritt, unvermutet, eine ganz andere Seite der Lehre von der Wahrheit der Dinge zutage. Die völlige Erkennbarkeit, Lichtheit, Offenbarkeit der Dinge ist nur ein Aspekt des Sachverhalts. Der andere Aspekt ist: daß die Dinge zugleich unergründlich, unauslotbar, unbegreiflich sind – und dies aus genau demselben Grund, weswegen sie licht, luzid und erkennbar sind! Weil es nämlich ein göttlicher Entwurf ist, nach welchem die Dinge gemacht sind, darum ist es uns prinzipiell unmöglich, ihre Übereinstimmung mit diesem Ent|wurf
393 festzustellen – in welcher Übereinstimmung aber genau die Wahrheit der Dinge besteht. Wir sind prinzipiell außerstande, sozusagen als Zuschauer den Hervorgang der Dinge aus dem Logos Gottes, aus dem Auge Gottes zu beobachten. Und darum betritt unsere Erkenntnisbemühung, selbst wenn sie sich auf die »einfachsten«, simpelsten Dinge richtet, einen prinzipiell unbeendbaren Weg. Noch einmal also: die Dinge sind licht, weil sie creatura sind, und: sie sind unergründlich, weil sie creatura sind!
Daß alle Dinge, die uns in der Erfahrung begegnen, beides zugleich sind, erkennbar, aber bis ins Unendliche erkennbar, und das heißt: unbegreiflich – das ist gleichfalls eine Erfahrungstatsache. Aber daß beides den gleichen Grund hat, und daß Erkennbarkeit und Unbegreiflichkeit notwendig miteinander verknüpft sind, dies muß einfachhin unverständlich bleiben, es sei denn, die Welt werde als Schöpfung betrachtet. Wer diese Vorstellung ausdrücklich verneint, der ist vielleicht sogar außerstande, zu verstehen, wie es überhaupt so etwas geben könne wie die Wesenheit und die Natur der Dinge. Eine sonderbare Idee – wird man vielleicht sagen; warum sollte es nicht möglich sein, von der Natur der Dinge zu reden – ohne anzunehmen, daß hinter ihnen ein Creator steht? Nun, die Frage ist, ob man es plausibel machen könne, wieso es überhaupt eine Natur, ein Was, eine Wesenheit der Dinge gibt – wenn man die Welt nicht als creatura versteht. Wer der Meinung ist, dies sei dann in der Tat nicht plausibel zu machen, der findet jedenfalls, höchst verwunderlicherweise, einen Bundesgenossen im nihilistischen Existenzialismus von Jean Paul Sartre, der genau dies behauptet: die existierenden Dinge, darunter vor allem der Mensch selber, haben keine ihrer faktischen Existenz vorausliegende Wesenheit! Eben das macht, nach Sartre, den Unterschied aus zwischen Naturdingen einerseits und künstlichen, vom Menschen gemachten Dingen anderseits; der Unterschied liegt darin, daß die künstlichen Dinge (ein Stuhl, ein Haus, ein Brieföffner) einem vorausliegenden Entwurf nachgemacht sind, von dem her sie dann auch ihr »Was« haben, ihre »Natur«; und daß den »natürlichen« Dingen, vor allem dem Menschen selbst, kein Entwurf vorausliegt (von dem her sie ihr »Was«, ihre »Natur« haben könnten). Diese »natürlichen« Dinge, vor allem (immer) der Mensch selbst, existieren zu|nächst
394 einmal einfach. Aber die Frage, was dann eigentlich dieser existierende Mensch sei, ist nicht allein unbeantwortbar; sondern: es gibt gar nicht so etwas wie eine menschliche Natur! Il n’y a pas de nature humaine. Und Sartre fügt sogleich auch den Grund hinzu, warum es keine Natur des Menschen gebe: puisqu’;il n’y a pas de Dieu pour la concevoir, weil es keinen Entwerfer und keinen Entwurf gibt.
Dies aber, so wage ich zu behaupten, ist nichts anderes als eine klare und ausdrückliche Bestätigung der alten Lehre von der Wahrheit der Dinge. Jedenfalls besteht zwischen Sartre und Thomas von Aquin eine sehr fundamentale Übereinstimmung: beider Gedankengang hat den gleichen Start; sie beginnen mit genau dem gleichen Prinzip: daß nämlich die Dinge Natur und Wesenheit nur haben können, wenn sie entworfen sind, d.h. gebildet nach einem Urbild, das seinen Ort in einem schöpferisch erkennenden Geiste hat. Weil der Mensch den Stuhl, die Brücke, den Brieföffner erdacht, erfunden, entworfen hat, darum und aus keinem anderen Grunde können wir davon sprechen, »was« ein Stuhl, eine Brücke, ein Brieföffner sei; wir können von der »Natur« dieser Dinge reden. Dies, wie gesagt, ist der Ausgangsgedanke, in welchem Thomas und Sartre völlig übereinstimmen. Allerdings kommt dann die entscheidende Nicht-Übereinstimmung und der klare Gegensatz. Sartre fährt fort: weil es keinen schöpferisch erkennenden Geist gibt, von dessen Entwurf her die Dinge ihr Was haben könnten, darum gibt es keine Natur des Menschen und der Dinge. Während Thomas natürlich seinerseits fortfährt: weil und insofern Gott die Dinge schöpferisch erkannt, erdacht und entworfen hat, eben darum, aus genau diesem Grunde haben sie auch eine Natur. – Noch einmal, die für Thomas wie für Sartre gemeinsame Grund-Annahme ist: von einer Natur der Dinge und des Menschen kann mit dem Anspruch auf Präzision und Genauigkeit nur die Rede sein, sofern die Dinge und der Mensch ausdrücklich als creatura, als Schöpfung gesehen sind. Und ebendies, daß die Dinge schöpferisch erkannt seien durch den Creator, ist gemeint, wenn die Alten von der Wahrheit sprechen, die in den Dingen selbst wohne, in allem, was ist.
Sartre hat völlig recht, wenn er den atheistischen Philosophen des 18. Jahrhunderts den Vorwurf der Inkonsequenz macht. Ihr könnt nicht (so sagt er mit Recht) den Gedanken |
395 der Schöpfung streichen und dann weiter, als sei damit gar nichts passiert, vom »Wesen« der Dinge und von der »Natur« des Menschen reden; wenn es keinen Entwerfer und keinen Entwurf gibt, dann auch kein Wesen und keine Natur der Dinge! – Sartre selbst hat diese Inkonsequenz vermieden; er selbst sagt ausdrücklich, sein Existentialismus bedeute nichts anderes als den Versuch, alle Schlußfolgerungen zu ziehen aus einer radikal atheistischen Position.
Anderseits: Diese Konsequenz führt geradewegs in den Nihilismus – was wiederum Sartre selber beweist. Wenn es nämlich wirklich so etwas wie eine menschliche Natur nicht gibt, wie soll es dann möglich sein, die Konsequenz zu vermeiden: Mach aus dir selbst, was dir beliebt; und: Macht mit dem Menschen, was euch gutdünkt? Was könnte es dann heißen, »menschlich« und »wie ein Mensch« zu leben? Wie sollte es zu vermeiden sein, menschliche Freiheit als völlige Orientierungslosigkeit zu verstehen? Denn dies ist genau das, was der existentialistische Freiheitsbegriff besagt: Du kannst schlechterdings tun, was immer dir in den Sinn kommt; allerdings: glaube nicht, dies sei eine angenehme Sache; Freiheit beginnt jenseits der Verzweiflung! All die triumphalen Beiklänge, die noch den aufklärerischen Freiheitsbegriff kennzeichnen, sind verschwunden!
Ich schließe mit einer Frage: Ist es nicht eine unerwartete Einsicht, daß möglicherweise all diese wohlbekannten, trostlosen und verzweifelten Theorien über den Menschen und seine Welt im Grunde nur eine unvermeidliche Konsequenz daraus sein könnten, daß man das Prinzip »Wahrheit der Dinge« leugnet und verneint – den Gedanken nämlich, daß der Mensch und die Dinge einen Sinn, eine Wichtigkeit, eine Bedeutung, ja sogar überhaupt ein »Was« und eine »Natur« nur insofern haben, als sie einen göttlichen Entwurf nachbilden, d.h., nur insofern als sie »wahr« sind?

Wer die Frage bedenkt: Was eigentlich geschieht im Grunde, wenn ein Mensch stirbt? – der fragt nach viel mehr als nach einem bestimmten punktuellen, datierbaren Ereignis. Und es ist gerade diese viel weiter greifende Frage, die dringlich wird und unausweichlich, sobald wir uns mit voller Offenheit der Erschütterung stellen, die in der Erfahrung des Todes sich bereithält. Angesichts des Todes von Menschen, die uns nahe sind, läßt sich die Frage, was es mit Gott und der Welt auf sich habe, gar nicht unterdrücken; genauer gesagt, es ist die Frage, was es mit dem Menschen, mit uns selber, auf sich habe – nicht so sehr, was der Mensch sei (nicht eine Definition wird dringlich, nicht eine Beschreibung der Natur des Menschen – solche Erörterungen werden dem durch die Nähe des Todes Berührten eher als allzu harmlos, als nahezu unernst erscheinen) – nein, dringlich wird eine Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Dasein und nach seinem letztgründigen Sinn. – Augustinus spricht in seinen Bekenntnissen, im vierten Buch, vom Tode eines Freundes, der ihn, den Neunzehnjährigen, in die Mitte der Existenz getroffen habe. »Meine Seele konnte nicht leben ohne ihn.« Aber die beiden waren, zuletzt, fast im Streit voneinander geschieden: der Freund war, während er bewußtlos im Fieber lag, getauft worden; und dann sieht es so aus, als werde er die Krankheit überstehen; Augustin besucht ihn und »witzelt«, so berichtet er selbst, »seines Beifalls gewärtig, über die Taufe, die er da ganz ohne Wissen und Wahrnehmung empfangen« habe; aber der Kranke weist den nun völlig verblüfften und geradezu fassungslosen Augustinus mit unvermuteter Schärfe zurecht; der redet dann voller Verlegenheit einiges daher: nun ja, er solle nur erst wieder zu Kräften kommen (und so fort) – und beendet den Krankenbesuch. Aber dann kommt das Fieber wieder, und der Freund stirbt, ehe Augustinus zurückkehrt. »Da wurde es dunkel in meinem Herzen, und was ich anblickte, war alles nur Tod […] Ich haßte alles […] Ich selber war mir zur großen Frage geworden«; factus eram ipse mihi magna quaestio. Es ist völlig zu Recht gesagt worden: hier geschehe »die Geburt der existentiellen Philosophie« aus der Erfahrung des menschlichen Todesschicksals.
315 Der Tod also ist ein philosophisches Thema von ganz besonderer Art. Es gibt sogar gewichtige Stimmen, von der Antike bis heute, die sagen: Philosophieren, das heißt die Bedenkung des Daseinsganzen, sei im Grunde nichts anderes als Nachsinnen über den Tod, commentatio mortis (das steht bei Cicero, in den Tuskulanischen Gesprächen), und: der Tod sei der inspirierende Genius der Philosophie, ohne den schwerlich überhaupt philosophiert werde (so Schopenhauer).
Es ist noch ein Wort zu sagen über die Formulierung »Tod und Unsterblichkeit«. Diese beiden, im Thema dieser Betrachtung verknüpften Begriffe wird man, beim arglosen Lesen oder Hören, durchschnittlicherweise so verstehen, daß »Tod« sozusagen die Frage sei und »Unsterblichkeit« die Antwort, die Antwort vor allem des christlichen Philosophen; daß das quälende Problem »Tod« seine Lösung und Auflösung finde in der Gewißheit der »Unsterblichkeit«. Dieser Vermutung und den Erwartungen, die sich etwa damit verknüpfen mögen, muß jedoch von Anfang an klar und energisch widersprochen werden: so ist es nicht gemeint; so kann man es nicht meinen – weder wenn man die christliche noch wenn man die Auskunft etwa des platonischen Sokrates ernst nimmt. Das soll nicht heißen, daß die »Unsterblichkeit der Seele« irreal oder unerweisbar sei, natürlich nicht; der Rang des Geistes, auch des menschlichen Geistes, erweist sich in seiner Unzerstörbarkeit. Aber die Überwindung des Todes ist damit nicht schon beim Namen genannt; die Überwindung des Todes geschieht nicht schon dadurch, daß die Seele, als sei sie gar nicht betroffen, über den Zerfall des Leibes hinaus weiterexistiert. Ich muß hier noch einmal Augustin zitieren, seine Allein-Gespräche: »Wenn du nun erfahren hast [so fragt der Nachsinnende sich selbst], daß du unsterblich bist: wird dir das genug sein?« Die Antwort lautet: »Es wird etwas Großes sein, aber für mich ist es zuwenig.«
Das Weiterexistieren der Seele, als sei sie durch den Tod gar nicht betroffen – diese eben beiläufig gebrauchte Formulierung führt in die Mitte des Problems. Wenn nämlich das, was im Sterben eines Menschen geschieht, mit Sinn und Fug »Trennung von Leib und Seele« genannt wird (und diese seit einigen tausend Jahren in der Menschensprache eingebürgerte Kennzeichnung kann wohl klassischen Rang beanspruchen – obwohl es sich zunächst nur um den Versuch einer Beschreibung handelt, womit |
316 noch nichts erklärt ist) –, wenn wir also diese deskriptive Charakterisierung akzeptieren: dann hängt, notwendig, die Deutung des Todes (genauer: des Sterbens) davon ab, wie das, was sich im Sterben voneinander löst, vorher, im Leben, verbunden gedacht wird. Werden Leib und Seele so verbunden gedacht, daß aus beidem überhaupt keine wirkliche Seins-Einheit zustandekomme, daß da im Grunde immer zwei Dinge seien (z.B. die Seele so etwas wie ein Handwerker, der sich des Leibes bedient wie eines technischen Geräts; oder: die Seele ein Schiffer, der bei der Landung (im Sterben!) sein Boot verläßt wie etwas, dessen er nun nicht mehr bedarf); oder wenn gar Leib und Seele gedacht werden wie zwei gewaltsam und fast wider die Natur zusammengesperrte Wesen, eins das andere behindernd und störend, der Leib der Kerker der Seele – es ist völlig klar, daß dann die Trennung von Leib und Seele, also das Sterben, etwas von Grund auf anderes bedeuten muß, wie wenn die Verbindung von Leib und Seele so gedacht wird, daß aus beiden ein einziges Wesen geworden sei – so wie aus dem Bröckchen Silber und der ihm aufgeprägten Form (Bildnis, Wappen, Adler) diese so beschaffene Münze geworden ist. Und das ist ja eine Modellvorstellung, von der her das Verhältnis von Leib und Seele, von der Antike her bis heute, gleichfalls gedacht worden ist: anima forma corporis, die Seele ist die den Leib von innen her prägende, gestaltgebende Form. Wer also die Verknüpfung von Leib und Seele so versteht, daß beide miteinander den einen leibhaftigen Menschen konstituieren (nicht also: die Seele der »eigentliche« Mensch, der sich des Leibes bedient (homo est anima utens corpore: so kennzeichnet Thomas von Aquin die platonische Auffassung); sondern: Leib und Seele von Natur, auf Grund der Natur beider, zusammengehörig; beide einander von Natur befreundet und aufeinander angewiesen, nicht bloß der Leib auf die Seele, sondern auch die Seele, zu ihrem entfalteten Leben, angewiesen auf den Leib) – und diese Meinung ist durch die empirische Erforschung wirklichen menschlichen Lebens tausendfach bestätigt worden und wird immer neu bestätigt, und zwar nach beiden Richtungen hin, nicht nur in Richtung auf eine »materialistische« Deutung des Menschenwesens: daß nämlich im Menschen nichts »rein« Geistiges sei, nichts z.B., das nur Gedanke wäre, nur geistiger Akt und nicht auch zugleich Sinnlichkeit und Organfunktion; nein, die Bestätigung der alten Lehre von der anima forma corporis |
317 durch die anthropologische Empirie zielt durchaus auch in die andere Richtung: daß es nämlich im menschlichen Bereich nichts »rein« Materielles, »rein« Körperliches, »rein« Biologisches gebe, daß vielmehr das organische Leben in allen seinen Dimensionen, auch im Vegetativen, mitbestimmt, »geformt« sei, durch die Haltung und Entscheidung der geistigen Seele – noch einmal: wer so die Verknüpfung von Leib und Seele versteht, die Verbindung also, kraft deren wir als leibhaftige Wesen leben, der muß den Tod, die Trennung von Leib und Seele, als ein Geschehnis betrachten, das keine Zone der Existenz, kein Element unserer Natur unberührt und unbeteiligt lassen kann.
Es zeigt sich hier die Ungenauigkeit, ja die Unangemessenheit der üblich gewordenen Rede von der »Unsterblichkeit der Seele«. Streng genommen kommt es, rein von der Sprachnorm her gesehen, weder dem Leibe zu noch der Seele, zu sterben oder auch nicht zu sterben, sterblich zu sein oder auch unsterblich – so wie wir ja auch wissen, daß es uneigentliche, bildliche Rede ist, vom Granit oder vom Ruhm zu sagen, sie seien unsterblich, oder von einer unsterblichen Blamage zu reden: Granit, Ruhm, Blamagen sind ja nicht von solcher Art, daß in bezug auf sie im genauen Wortsinn von Sterben oder Nicht-Sterben überhaupt könnte geredet werden. Von solcher Art ist aber auch die Seele nicht, noch der Leib des Menschen. Wenn man den Sinn der Worte genau nimmt, dann ist es nicht die Seele, die unsterblich ist, noch ist es der Leib, der stirbt. Es stirbt der Mensch, der ganze Mensch aus Leib und Seele. Und wenn in bezug auf den Menschen von Unsterblichkeit im strikten Wortsinn soll die Rede sein können, dann müßte diese Unsterblichkeit gleichfalls nicht der Seele, sondern dem ganzen Menschen zugesprochen werden. Und genau auf solche Weise spricht das Neue Testament wie auch die klassische Theologie von der Unsterblichkeit; der Begriff »unsterbliche Seele« ist dort so gut wie unbekannt, wohingegen vom auferstandenen Christus, vom paradiesischen Menschen, vom Menschen des künftigen Äon, und zwar von ihnen allein, gesagt wird, sie seien unsterblich.
Was übrigens anderseits die Rede von der »unsterblichen Seele« betrifft, so ist die Herkunft dieser Wortprägung einigermaßen aufschlußreich und verdachterregend: es handelt sich nämlich um die Formel für »das eigentliche Zentraldogma der Aufklärung«; sie stammt aus der gleichen Beruhigungsphiloso|phie,
318 gegen die der Materialist Ludwig Feuerbach mit Recht den polemischen Begriff des »Scheintodes« geprägt hat, da sie den Versuch unternehme, das irdische Ende des Menschen umzufälschen in einen Vorgang, der die Seele gar nicht betreffe. Das ist es nämlich, was die aufklärerische Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele vor allem besagt: erstens, der Tod sei etwas mehr oder weniger Unwirkliches; ein bloßer Übergang; etwas, das den geistigen Menschen im Grunde nichts angeht; und zweitens: das Leben nach dem Tode sei ein »Fortleben« der Seele, ein Weiterexistieren im striktesten Sinn, ein besseres Leben deswegen und insofern, als die Seele (ich zitiere den deutschen Aufklärungsphilosophen Reimarus) »von einem unvollkommeneren sinnlichen Leben zu einem vollkommeneren, immerwährenden, geistigen erhoben wird«, das nun nicht mehr vom Leibe beengt ist. – Daß uns, indem wir dies hören, Platon in den Sinn kommt, gehört noch mit zum Erfolg jener Aufklärungsphilosophie und ihrer Platon-Mißdeutung, um nicht zu sagen: ihrer Platon-Fälschung. Das ist ein scharfer Ausdruck – aber ich fürchte, daß man Moses Mendelssohns Phädon oder über die Unsterblichkeit kaum anders bezeichnen kann. Dieses Buch vom Jahre 1767, eines der erfolgreichsten Bücher der deutschen Aufklärungsphilosophie, ist übrigens ein seltsames Buch: auf weite Strecken einfach eine Übersetzung des platonischen Dialogs Phaidon, ohne daß aber der Leser irgend erkennen kann, was wörtliche Übersetzung ist und was Mendelssohns eigener Text; zwar sagt Mendelssohn in der Vorrede ausdrücklich: er habe »die metaphysischen Beweistümer nach dem Geschmack unserer Zeiten einzurichten gesucht«; aber diese Abweichungen sind auf keine Weise kenntlich gemacht; und wenn man dann vergleicht zwischen Mendelssohns Phädon und Platons Phaidon, so ergibt sich, daß gerade das Entscheidende der platonischen Aussage weggelassen ist. Zum Beispiel ist schlechterdings nicht zu erkennen, daß Platon ausdrücklich auf jede Vernunftspekulation über das Leben der Seele nach dem Tode verzichtet, daß er sich hierfür vielmehr einzig auf den Mythos beruft, zu dessen fundamentalen Merkmalen jedenfalls gehört, daß sein Autor nicht Platon ist; vor allem kann ein argloser Leser des Mendelssohnschen Phädon unmöglich herausfinden, daß, nach Platons Meinung, das bare Weiterexistieren der Seele keineswegs schon etwas Wünschbares ist; daß vielmehr, wie Sokrates sagt, für den, der |
319 nicht das Gute will, Unsterblichkeit eine furchtbare Sache ist, und daß es also etwas ganz anderes ist, etwas über das reine Weiterexistieren Hinausgehendes, wodurch das Leben der Seele nach dem Tode ein Gegenstand menschlicher Hoffnung wird. Völlig unterschlagen ist bei Mendelssohn Platons ausdrückliche Lehre, daß die hiesige und die »andere« Welt nicht allein geschieden sind durch den Tod, in welchem Leib und Seele sich voneinander trennen, sondern durch das Gericht – und so fort. Natürlich kann uns hier nicht das einzelne interessieren. Wichtig ist nur, daß diese Platonmißdeutung über die ins Breite wirkende Popularphilosophie und über die Dichtung bis heute nachwirkt – so daß durchweg die aufklärerische Unsterblichkeitsvorstellung unbesehen als identisch gilt mit der platonischen, mit dem Resultat, daß Platon – in diesem Punkt völlig unzutreffenderweise – als unvereinbar erscheint mit der christlichen Vorstellung vom Tode, von der Unzerstörbarkeit der Seele und vom Leben nach dem Tode.
Ich greife noch einmal zurück: Wer den konkreten Menschen versteht als ein von Natur leibhaftiges Wesen (und »von Natur« heißt für den Christen immer: von Schöpfungs wegen!), der kann unmöglich die Unzerstörbarkeit der Seele so denken und deuten, daß dieser Teil unserer selbst nach dem Tode einfachhin »fortlebe« und »weiterexistiere« – einfachhin, das heißt, als habe der Tod die Seele gar nicht erreicht und berührt. Eine solche trügerische »Bewältigung des Todes« ist uns, wenn wir wirklich ernstnehmen, was die empirische Erforschung des Menschenwesens zutage gefördert hat, einfach nicht mehr möglich, scheint mir; sie gerät uns schlechterdings nicht mehr, wir bringen sie nicht zustande. Eher könnte uns dann schon die materialistische Deutung plausibel erscheinen; freilich ist auch sie eine unerlaubte Vereinfachung. Zweierlei ist hier zusammenzudenken (und darin liegt seit eh und je die Schwierigkeit): es muß zusammengedacht werden, daß einerseits der ganze Mensch, mit Leib und Seele, durch den Tod getroffen und betroffen ist, und daß anderseits dennoch die Seele unzerstört im Sein beharrt.
Das Betroffenwerden aber des ganzen Menschen durch den Tod hat vor allem den Namen »Ende«: wenn das Beieinander von Leib und Seele die Existenz des lebendigen Mensch ausmacht, dann ist der Tod eo ipso das Ende dieser Einheit. Mit der Trennung von Leib und Seele treten ja nicht zwei Dinge schlichtweg |
320 auseinander (der Schiffer verläßt das Boot); sondern: das eine Wesen »Mensch«, das durch die Vereinigung von Leib und Seele nicht nur »lebt«, sondern überhaupt Bestand hat, hört auf, zu sein. Ein toter Mensch ist ja nicht eigentlich ein Mensch! Die Sprache kommt hier tatsächlich an die Grenze ihrer Benennungskraft. Wir sagen wohl: der Tote – aber wer soll das sein? Der entseelte Leib, die Leiche? »Wie sollen wir ›Dich‹ begraben?« – so fragt der realistische Praktiker Kriton (im platonischen Dialog Phaidon) den todgeweihten Sokrates, in der letzten Stunde vor dem Ende. Die Antwort des Sokrates ist bekannt: »Macht das ganz wie es euch gutdünkt – falls Ihr ›mich‹ noch zu fassen bekommt und ›ich‹ euch nicht entwischt bin« – eine Antwort, die jedenfalls in dem einen Punkt völlig zutrifft: was da begraben wird, ist nicht Sokrates! Bei Thomas, in einem seiner Aristoteleskommentare, findet sich eine noch viel radikalere Formulierung: Strenggenommen bleibe nach dem Tode nicht nur das leibhaftige Lebewesen selber nicht zurück, es könne auch nur in völlig andersartiger Wortbedeutung von den Gliedern des Leibes gesprochen werden: Fleisch und Knochen – das könne man vielleicht noch sagen, aber von einer »Hand« könne, nach dem Tode, schon nicht mehr eigentlich die Rede sein; nur eine durchseelte, also lebendige Hand ist, genau gesprochen, eine Hand! Das ist eine harte, fast brutale Rede; aber sie formuliert nur die unausweichliche Konsequenz daraus, daß der Mensch durch die Vereinigung von Leib und Seele existiert und daß, was auch immer nach dem Tode im Sein beharrt, nicht in vollem Sinn »Mensch« genannt werden kann.
Dennoch geschieht, wenn ein Mensch stirbt, zugleich etwas anderes, das in einem noch viel intensiveren Sinn »Ende« ist als dieser Naturvorgang der Trennung von Leib und Seele. Als ein Naturgeschehen nämlich muß dies Auseinandertreten von Leib und Seele wohl bezeichnet werden: auch in dem freien Willens übernommenen oder auch herbeigeführten Tod – etwa des Märtyrers oder auch: des Selbstmörders – geht es ja nicht so zu, daß die Trennung von Leib und Seele unmittelbar durch den Menschen selbst gewirkt würde (»bewirkt« vielleicht, aber nicht gewirkt): nicht wir verfügen diese Trennung, sondern, auch wenn wir selbst »uns den Tod geben« (wie der Ausdruck lautet), widerfährt sie uns; sie überkommt uns, als ein objektives, uns von außen zustoßendes Geschehnis. Aber zugleich mit diesem ob|jektiven
321 Vorgang geschieht im Sterben auch etwas Subjektives; und auch dieses Subjektive meint »Ende« – und zwar Ende in solchem Sinn, daß die Endgültigkeit der Trennung von Leib und Seele noch weit überboten erscheint. Man kann auch so sagen: im Tode geschieht nicht nur Ende; sondern der Mensch selbst, als Person, das heißt, als ein Wesen, das zur Entscheidung nicht nur fähig und berufen ist, sondern sie auch gar nicht vermeiden kann – der Mensch selbst »macht« ein Ende. Nicht als läge es in seiner Macht, zu sterben oder nicht; er muß sterben, und die Trennung von Leib und Seele, die er weder verfügen noch verhindern kann, kommt über ihn wie ein Naturereignis. Und als »Naturwesen« wehrt er sich, mit aller Angst der Kreatur und mit der ganzen wilden Dynamik des naturhaften Lebenswillens, gegen diese Überwältigung. Aber mitten darin oder vielleicht auch im allerletzten Augenblick dieses Sichwehrens (wenn seine Aussichtslosigkeit endgültig evident geworden ist) ergeht an den Menschen die Aufforderung, ja die Nötigung zu einer Entscheidung, zu einer freien Tat also. Der Mensch findet sich als ein Sterbender in der Situation, gar nicht anders zu können, als den eigenen Tod in einer freien Entscheidung zu »leisten« und, als er selber, eine totale Verfügung über sich selbst, so oder so, zu treffen. Zum ersten und einzigen Mal im Leben ist er dazu aufgefordert, aber auch dazu befähigt – so daß mit Recht hat gesagt werden können: der höchste Akt des irdischen Lebens sei präzis derjenige, der es beendet.
Es ist wichtig zu sehen, daß hier Notwendigkeit und Freiheit sich verknüpfen. Wer eines der beiden Elemente ausläßt, das Element der von außen herantretenden Nötigung oder das Element der ganz und gar freien Entscheidung, fälscht den Sachverhalt. In der Heideggerschen Vorstellung des Todes als »meiner eigensten Möglichkeit« oder der »Freiheit zum Tode« scheint mir das Element der Notwendigkeit, des passiven Ausgeliefertseins allzu sehr zugedeckt – weswegen, so glaube ich, J. P. Sartre recht hat mit folgendem Einwand (gegen Heidegger): der Tod sei doch ein Faktum, einfachhin ein objektives Geschehnis, »das sich mir prinzipiell entzieht«, un pur fait, comme la naissance; genausowenig wie die Geburt sei der Tod »meine Möglichkeit«. Sartre hat, scheint mir, recht gegen Heidegger; aber, aufs Ganze gesehen, fälscht auch er den Sachverhalt: der Tod ist nicht eine »bloße« Tatsache, die uns widerfährt und überwältigt.
322 Dieser Freiheits- und Entscheidungsaspekt des Todes (genauer: des Sterbens) ist präzisiert in der überlieferten Vorstellung von der Beendigung des status viatoris. Die sich hier einstellenden traditionellen Bezeichnungen »Pilgerschaft« und »Pilgerstand« möchte ich nicht gern verwenden. Man darf sich die hier ausgesprochene Einsicht nicht verstellen und verderben lassen durch das Beiwerk mißtönender Nebenbedeutungen. Es ist ja gar nichts Gefühliges oder gar Sentimentales gemeint; es ist auch nicht etwas spezifisch »Religiöses« gemeint, auch nicht so etwas wie eine ethische Forderung (man müsse vorankommen, besser werden und so fort – so richtig natürlich solche Richtweisungen sind). Gemeint ist mit dem status viatoris und seiner Beendigung folgendes: Solange der Mensch leibhaftig existiert, befindet er sich, ob er mag oder nicht, auf einem Wege: er kann stehenbleiben, Umwege machen, zurückschreiten (in gewissem Sinne), Abwege gehen; er kann auch in der wahren, richtigen Richtung voranschreiten– er hat ungezählte Möglichkeiten; nur eine Möglichkeit ist ihm verschlossen, die Möglichkeit, sich überhaupt nicht »unterwegs«, auf dem Wege, in via, zu befinden. Allerdings: eines Augenblicks ist dieser Zustand des Auf-dem-Wege-seins beendet, das heißt, von diesem Augenblick an gibt es nicht mehr die Möglichkeit, weiter voranzuschreiten, stehenzubleiben, Abwege und Umwege zu machen! Von diesem Augenblick an befindet sich der Mensch überhaupt nicht mehr »unterwegs«; und das ist der Augenblick des Todes. Sterben heißt, den Weg beenden und auch den inneren Zustand des Auf-dem-Wege-seins selbst. Diese Beendigung also ist ein Akt, der in der innersten Entscheidungsmitte des Menschen geschieht, im Kern der Person.
Mag auch der Tod als äußeres Ereignis wie eine Überrumpelung noch so plötzlich und unerwartet kommen: die Entscheidung, zu der ich, möglicherweise von einem Augenblick zum andern, aufgefordert und genötigt werde, diese das Ganze meines Lebens betreffende, freie Entscheidung ist es, die den letzten Schritt auf dem Wege tut. Allem Anschein zum Trotz spricht vieles dafür, daß diese letzte Entscheidung in ihrer Freiheit durch keinerlei Zeitdruck beeinträchtigt ist. Wir wissen, daß wir eine durch Jahre sich erstreckende Begebenheit im Bruchteil einer Sekunde zu träumen vermögen, und daß zum Vollzug eines geistigen Aktes (etwa der liebenden Zuwendung) in der letzten |
323 Tiefe des Bewußtseins eine minimale Zeitspanne vonnöten ist; es ist auch etwa bekannt, daß Menschen, die vom unmittelbar drohenden Tode gerettet wurden, im letzten Augenblick vor dem Erlöschen des Bewußtseins ihr ganzes Leben mit allen längst vergessenen Einzelheiten völlig klar vor ihren Augen haben abrollen sehen – was man doch wohl verstehen darf als eine Aufforderung, mindestens als die Ermöglichung einer totalen Bewertung des gleichen Lebens, nun auf Grund des höchsten, endgültigen Maßstabes: eben das wäre jener letzte Schritt auf dem Wege, wodurch der Mensch seine »endgültige Verfassung« gewinnt! Der Akt, in welchem das geschieht, könnte dabei sehr wohl gedacht werden als ein völlig unartikulierter, ein von niemandem vernommener, vielleicht sogar dem eigenen reflexen Bewußtsein verborgener Seufzer der conversio ad Deum, der Hinkehr zum letzten Grund des Seins (freilich möglicherweise auch der Abkehr, der aversio).
Das Weistum vom Tode als der Beendigung des status viatoris besagt also: daß jedes menschliche Leben wirklich zu Ende gehe und zu Ende komme und nicht bloß eines Augenblicks »aufhöre«. Es ist gesagt, daß es kein Sterben gibt, das – wie sehr auch immer dem Menschen »zustoßend«, von außen her, als Naturereignis – bloßes Abreißen der Lebensfunktionen ist. Immer ist das Sterben zugleich ein das Dasein von innen her ausdrücklich abschließender Akt, eine Vollstreckung und Besiegelung, ein Zu-Ende-bringen, Unterschrift und Vollzug des Lebensganzen, Austragung, Komplettmachen und Beschluß. Vor allem ist gesagt, daß es, genaugenommen, einen unzeitigen oder auch nur vorzeitigen Tod gar nicht gibt.
Wenn Sartre behauptet, der Tod könne schon allein deswegen nicht den Charakter des »Schlußakkords« haben, weil über seinen Zeitpunkt der Zufall entscheide (»Man müßte uns vergleichen mit einem zum Tode Verurteilten, der sich tapfer auf den letzten Gang vorbereitet, der alle Sorgfalt darauf verwendet, auf dem Schafott eine gute Figur zu machen, und der inzwischen durch eine Grippeepidemie hinweggerafft wird«) – so ist das witzig formuliert und übrigens auch, gegen die Krampfhaltung einer stoischen »Todesbereitschaft«, völlig zutreffend gesagt. Aber der wahre Sachverhalt wird nicht getroffen. Und wenn dann gar, bei Sartre, von dem jungen Autor die Rede ist, der ein großer Schriftsteller zu werden verspricht, aber dann »vorzeitig« stirbt – |
324 so muß demgegenüber gesagt werden: Sartre scheint den Weg, von dessen Beendigung hier gesprochen wird, überhaupt nicht zu Gesicht bekommen zu haben; er scheint den inneren Erwartungspunkt, auf den hin die menschliche Selbstverwirklichung bezogen und entworfen ist, gar nicht zu sehen.
In der Diskussion über die Todesstrafe ist gelegentlich gesagt worden, durch die Hinrichtung werde dem Menschen der »eigene Tod« genommen. Ich halte das nicht nur für kein Argument gegen die Todesstrafe; es ist auch in sich selbst unzutreffend. Wenn es überhaupt so etwas geben könnte wie »des eigenen Todes beraubt werden«, dann wäre, wie ich es in Amerika gelesen habe, eher zu erinnern an die mit allen Mitteln, von der Suggestion bis zur Stimmungsdroge, arbeitende Täuschung des eigens dafür zahlenden Todkranken in gewissen weltstädtischen Kliniken; im Vergleich mit diesen Betrogenen (die freilich trotz allem kaum der letzten eigenen Entscheidung enthoben oder vielmehr beraubt werden können) – sei, so wurde gesagt, der zum Tode verurteilte Verbrecher in einer glücklichen Lage.
Noch einmal: es gehört zu den unzerstörbaren Existenzgewißheiten des Menschen, daß der Tod, über das Naturereignis der Trennung von Leib und Seele hinaus, in einem noch unvergleichlich intensiveren Sinne »Ende« ist: Beendigung des inneren Weges, gewirkt in einer endgültigen, das Ganze des Daseins betreffenden freien Entscheidung.
In dieser Vorstellung aber von der Beendigung des status viatoris ist ein ganz anderes Element gleichfalls enthalten: die Richtung auf die Zukunft. Der endgültig Ordnung schaffende Akt des »Fertigmachens« hat nicht allein und nicht primär das Vergangene im Blick. Das gilt ja schon für die Ordnung im Äußeren, die den Sohn und den Erben meint. Erst recht aber hat der innerlich Ordnung schaffende Akt, wodurch über die Existenz im ganzen verfügt wird, einen in der Zukunft liegenden Richtpunkt. Sterben heißt zwar »Beendigung des Weges«, »den Lauf vollenden«. Aber es ist natürlich gegen den offenkundigen Sinn solcher Vorstellungen, zu meinen, das Entscheidende sei, daß nunmehr das »Wandern« und »Laufen« aufhöre. Die Hoffnung, die sich in der viatorischen Existenz selbst verkörpert, richtet sich natürlich nicht auf das bloße Aufhören der Pilgerschaft, sondern auf das Ankommen am Ziel. Obwohl also der Begriff »Beendigung des status viatoris« in einem äußerst intensiven Sinn Ende und End|gültigkeit
325 besagt, so ist in ihm dennoch auch das Element »Übergang« und also »Nicht-Ende« enthalten. Wer also den Tod denkt als die Beendigung des inneren Weges, der hat schon mitgedacht, daß die Seele unzerstörbar sei.
Was aber ist mit dieser Unzerstörbarkeit der Seele gemeint? Möglichst knapp formuliert, ist gemeint: es sei nicht nur unmöglich, daß die Seele des Menschen einfachhin aus der Wirklichkeit verschwinde, etwa durch eine von außen kommende Zerstörung oder durch eigenen Entschluß, durch die Entscheidung für das Nichts; sondern die menschliche Seele sei, nicht zwar kraft eigener Setzung, wohl aber kraft ihres in der Erschaffung ihr zu eigen gegebenen Wesens und also »von Natur«, mit solcher Stabilität und Unversehrbarkeit begabt, daß sie, über den Tod und über den Zerfall des Leibes hinaus, als sie selbst, in identischer Individualität, im Sein beharre.
Wer nach den Argumenten fragt, mit denen diese These gestützt oder erwiesen werden könnte, wird zunächst zu bedenken haben, welcher Art »Argument« hier überhaupt erwartbar ist. Wir befinden uns offenkundig nicht im Bereich der unmittelbaren Erfahrung; und also ist schon klar, daß es einen »Beweis« auf Grund schlichter Empirie nicht geben kann. Erst recht befinden wir uns nicht im Bereich des Quantitativen; was bedeutet, daß mit Messen und Rechnen nichts auszurichten ist. Der Biologe Adolf Portmann hat gesagt, »daß niemand von der Naturforschung in ihrem heutigen Stande eine wissenschaftliche Erklärung über Ursprung und Bestimmung der lebendigen Gestalten erlangen wird, und daß dies nicht minder für eine Blume oder einen Vogel wie für uns Menschen gilt«; das besagt nicht weniger, als daß der Biologe »für die Antwort auf die Frage nach der Unsterblichkeit nicht zuständig« sei. – Der folgende Satz von Sigmund Freud scheint mir schon eher den Charakter eines Arguments zu haben, obwohl Freud selber ihm keine Beweiskraft zugesprochen hat (immerhin hat er darauf bestanden, daß es ein empirisch gewonnener Satz sei): »Im Unbewußten ist jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.« Man kann, scheint mir, mit Fug bezweifeln, daß alle Menschen sich, in der unbewußten Ursprungszone ihres geistigen Lebens, über einen so fundamentalen Existenzsachverhalt ganz und gar täuschen sollten. Immerhin, ein Argument im strikten Sinn liegt hiermit noch nicht vor – wenn man unter einem Argument einen Beweisgrund |
326 versteht, der in der erkennenden Durchdringung der zur Rede stehenden Realität, also der Seele selbst, gewonnen und gefunden ist. – Die Frage ist, ob es solche Argumente für die Unzerstörbarkeit der Seele gibt. Nun, jedenfalls sind seit einigen tausend Jahren immer wieder Beweisgründe formuliert worden, die genau diesen Anspruch machen. Versucht man sie zu ordnen, so bleiben sicher noch ein Dutzend verschiedener Grundformen. Alle diese Argumente müssen, wenn ihr Anspruch nicht sofort zunichte werden soll, standhalten und Stand geben gegen die zunächst völlig unwiderlegbar scheinende Erfahrung, daß im Tode alle Lebensäußerungen des Menschen, auch die geistigen, aufhören. Sie müssen aus dem, was in der Realität der Seele begegnet, einleuchtend machen, daß die Seele in die Zerstörung und Auflösung des Leibes nicht hineingerissen werden kann. Ebendies ist in der Tat der Anspruch all jener Argumente – mag nun ihr Grundwort lauten: »Einfachheit«, »Immaterialität«, »Geistigkeit«, »Zeitüberlegenheit« der Seele, oder wie immer.
Vieles spricht dafür, daß die Menschen je verschiedene Affinitäten haben zu je einem bestimmten Argument, so daß ihnen die anderen nicht viel sagen. Mir will das Argument aus der Wahrheitsfähigkeit der Seele als das einleuchtendste erscheinen. Übrigens findet es sich sowohl bei Platon wie bei Augustin und Thomas. In der Summa theologica heißt es: Weil die Seele capax veritatis ist, darum ist sie auch unvergänglich. Dieser Satz ist eine Schlußfolgerung. Ihre Gültigkeit kann, selbstverständlich, nur der erkennen, der den Vordersatz inhaltlich verstanden hat. Im Quantitativen genügt zur Feststellung des entscheidenden Sachverhalts eine Zeigerablesung; hier aber muß ich wissen, was Wahrheit und Wahrheitserkenntnis ist; ich muß »sehen«, daß sie, die Erkenntnis von Wahrheit, aller tiefgreifenden Angewiesenheit auf die leiblichen Organe zum Trotz, ein dennoch gegen alle physiologischen Abläufe von Grund auf unabhängiger Vorgang ist. Eben dies am Phänomen selbst wahrzunehmen und allerdings auch: es anzuerkennen – genau hierin liegt das Entscheidende und zugleich das Schwierige. Immerhin, dies Argument wird faktisch von jedermann anerkannt, selbst von dem, der es formell leugnet. Jeder nämlich, der sich in der Weise menschlicher Rede äußert, das heißt, jeder, der Realität kenntlich machen und einen Sachverhalt mitteilen will, erhebt notwendigerweise den Anspruch auf eine Gültigkeit, die niemals |
327 das Resultat materieller Abläufe sein könnte. In dem gleichen Augenblick, in dem einer zeigen kann, daß eine Äußerung das Ergebnis materieller Prozesse ist, hat er bereits gezeigt, daß sie jene Gültigkeit der wirklich menschlichen Rede nicht besitzt. Und natürlich gibt es solche Äußerungen, die weder Kenntlichmachung von Realität noch Mitteilung sind, durchaus. Der Hirn-Chirurg weiß, daß die Reizung bestimmter Zentren, etwa bei einer Operation, die Sprachmotorik in Gang setzt; aber niemand wird solche Äußerungen für »menschliche Rede« halten. Es gibt auch ein rein assoziatives, dem zufälligen Einfall folgendes Denken und Sprechen, das offenbar gleichfalls in hohem Maße das Resultat psychischer und physiologischer Mechanismen ist. Vor allem gibt es »ideologisches« Denken, das nichts anderes ist als der Reflex von mehr oder weniger materiellen Interessen; im gleichen Augenblick, in dem dies sich zeigt, ist solches Denken und Reden schon entwertet. Die weithin legitime Wirkung des Marxismus beruht eben hierauf, daß er von einem methodischen Prinzip her bestimmte politische oder auch »weltanschauliche« Meinungen als sachlich wertlos erweist, weil sie das Resultat materieller Bedingungen seien. Eben damit aber wird anderseits bekräftigt, daß der Wahrheitsanspruch nur auf Grund der Unabhängigkeit gegenüber aller nicht-geistigen Kausalität gilt. Selbst wenn jemand behauptet, alle menschlichen Meinungen seien ausnahmslos kraft mechanisch wirkender Notwendigkeit zustande gekommen, etwa als Ergebnis der Produktions- und Klassenverhältnisse, dann nimmt er notwendigerweise und mit völliger Selbstverständlichkeit eine Meinung aus, nämlich die eigene These. Sofern sie Gültigkeit in Anspruch nimmt, muß sie auf andere Weise zustande gekommen sein: als objektive Erfassung der Realität, das heißt, als Wahrheitserkenntnis. Worin sich wiederum bestätigt: niemand nimmt einen menschlichen Gedanken ernst, der durch eine nicht-geistige Kausalität, das heißt, nicht unabhängig gegen alle materiellen Abläufe zustande gekommen ist.
Das Argument für die Unzerstörbarkeit der Seele, das Argument aus der Wahrheitsfähigkeit, lautet also folgendermaßen: Weil die menschliche Seele capax veritatis ist, weil sie Wahrheit zu fassen vermag, weil sie etwas zu tun vermag, das über jeden denkbaren materiellen Ablauf prinzipiell hinausliegt und von ihm unabhängig ist, darum muß sie auch ein esse absolutum ha|ben,
328 das heißt, ein von der Materie, vom Leibe unabhängiges Sein; sie muß notwendigerweise etwas sein, das durch den Verfall des Leibes hindurch und über ihn hinaus Bestand hat.
Von welcher Art freilich dieses Weiterbestehen sein wird; wie das Sein der Seele, der anima separata, nach dem Tode beschaffen sein wird – hierüber gibt es kein fundiertes menschliches Wissen. Und die großen Geister erkennt man fast daran, daß sie ausdrücklich kein Wissen in Anspruch nehmen; man erkennt sie an ihrem Schweigen. Bei Platon, ich sagte es schon, gibt es keine rationale Spekulation über das, was dem Menschen nach dem Tode widerfährt. Auch die heiligen Bücher der Christenheit sagen nicht viel mehr, als daß sie vom »Entschlafensein« sprechen. Dies Wort allerdings müßte wohl genauer genommen werden, als es durchweg geschieht. Die Schlafenden wie auch die aus dem Leibe Entrückten betreten einen Existenz-Raum, in welchem zum Beispiel eine neue, unzeitliche Weise des Dauerns gilt und in welchem unsere Uhren und Zeitmessungen nichts besagen; die Entrückten, die Träumenden, die Schlafenden sind zugleich die auf höhere Weise Empfänglichen, empfänglicher für die Einwirkung unbekannter und dennoch das Innerste bestimmender Mächte. In den Fragmenten des Novalis heißt es, »ein gestorbener Mensch« sei »ein in absoluten Geheimniszustand erhobener Mensch«. Gerade die uns geläufige Vorstellung der Zeit, wie gesagt, wird ungültig; die »Zwischen-Zeit«, die sich erstreckt vom Augenblick des Todes bis zu der im Glauben erhofften Auferstehung am Ende der Tage, kann sicher nicht von der gleichen Art des Dauerns sein wie die Zeit zwischen Geburt und Tod. Aber das ist eine mehr negative als positive Aussage; ein Weiteres jedoch ist unserer Erkenntniskraft nicht erreichbar.
Dennoch sind auch solche verneinenden Auskünfte nicht wenig; sie schaffen, möglicherweise, Raum und Disposition für andere, durchaus bejahende Annahmen, die freilich nur im Glauben vollzogen werden können. Wer zum Beispiel, durchdrungen von der Erfahrung, daß lebendiges Menschsein im wechselseitigen Aufeinanderwirken von Leib und Seele besteht, den Tod als das Ende des wirklichen leibhaftig-geistigen Menschen versteht, der vermag zunächst keine Antwort zu geben auf die Frage, wie denn eine »abgeschiedene«, vom Leibe getrennte Seele überhaupt als »existierend«, geschweige denn als »lebendig« solle vorzustellen sein. Diese Ratlosigkeit aber, die sich |
329 durch bloß gedankliche Spekulation nicht aus der Welt schaffen läßt, könnte, so scheint mir, auf ganz neue Weise die Glaubenswahrheit von der Auferstehung des Leibes vernehmlich werden lassen – nicht verständlich, aber vernehmlich, vielleicht auch nur vernehmlicher.
An diesem Punkt der Erörterung breche ich ab, an der Schwelle, die den Bereich der Philosophie von dem der Theologie trennt und die ich vielleicht schon ein wenig überschritten habe. Es bleibt mir nur noch, ein Wort aus Kierkegaards Abschließender unwissenschaftlicher Nachschrift zu den Philosophischen Brocken zu zitieren: »Ehre sei der Gelehrsamkeit, und Ehre sei dem, der die gelehrte Frage nach der Unsterblichkeit gelehrt behandeln kann. Aber die Frage nach der Unsterblichkeit ist wesentlich keine gelehrte Frage. Sie ist eine Frage der Innerlichkeit, die das Subjekt, indem es subjektiv wird, sich selber stellen muß.«

Das Ungesagte vernehmen

Über das Selbstverständliche spricht man nicht; was sich von selbst versteht, goes without saying; es macht sich ohne Worte. Die Frage ist nur, was es sei, das sich von selbst versteht und also unausgesprochen bleiben kann.
In diesem sozusagen harmlosen Sachverhalt, der gleichfalls |
113 einigermaßen selbstverständlich ist, steckt die größte und eigentliche Schwierigkeit aller Text-Interpretation, sofern nämlich in der zu deutenden Äußerung auch solche Dinge, wegen ihrer Selbstverständlichkeit, unausgesprochen bleiben, die für den Interpretierenden keineswegs selbstverständlich sind – weswegen er sie nicht ohne weiteres mit-vernimmt. Und das bedeutet, daß für ihn die Klangfarbe auch des wirklich Vernommenen sich verändert. In der Interpretation eines Textes, zumal eines Textes aus fremder Kultur oder Epoche, ist das schlechthin Entscheidende und zugleich Schwierige dies: die fundamentalen Selbstverständlichkeiten zu erfassen, die unausgesprochen das Gesagte durchwirken; den unsichtbaren Notenschlüssel herauszufinden, dem das ausdrücklich Gesagte unterstellt ist.
Man hat geradezu sagen können, die Lehre eines Denkers sei just »das in seinem Sagen Ungesagte«; es ist Heidegger, der mit diesen Worten die eigene Interpretation eines platonischen Textes beginnt.[1] Wenn das auch eine recht zugespitzte Formulierung ist, so ist doch klar, daß eine Interpretation, die das im Sagen Ungesagte eines Textes nicht erreicht, notwendigerweise im Tiefsten einfach unzutreffend bleibt, mag im übrigen das wortwörtlich Gesagte und Vorfindbare noch so gelehrt erläutert sein (hierdurch wird es dann fast noch schlimmer!).
Wie aber wäre, das sei hier nur nebenbei gefragt, solchen unausgesprochenen, im Text also gar nicht formulierten Meinungen auf die Spur zu kommen? – Es gibt da, wie ich glaube, mancherlei Möglichkeiten des Erschließens. Eine davon, die sich mir viele Male bewährt hat, ist sicher die folgende. Das Unausgesprochene zeigt sich nicht selten – wie durch eine »Lücke«, wie durch einen »Spalt« im Gefüge – in einer gewissen Sprunghaftigkeit der Gedankenführung, in einer Art Inkonsequenz der Argumentation (wie es jedenfalls uns erscheint, den Interpretierenden, die wir ja von anderen, gleichfalls unausgesprochenen und vielleicht sogar nicht einmal formell gedachten Selbstverständlichkeiten auszugehen gewohnt sind). Worauf es aber dann ankommt, ist dies: daß man sich nur ja nachhaltig genug wundere, sobald einem solche anscheinenden Ungereimtheiten begegnen. Von einem konkreten Beispiel dieser Art wird im folgenden noch die Rede sein.
114
Der verborgene Notenschlüssel »Schöpfung«

Was nun die Philosophie des Thomas von Aquin betrifft, so ist ein Grundgedanke, von dem her nahezu alle Gerüstbegriffe seiner Weltansicht bestimmt sind, der Gedanke der Schöpfung, genauer gesagt, der Gedanke, daß es nichts gibt, das nicht creatura wäre – es sei denn der Creator selber. Und: daß die Geschaffenheit die innere Bauform der creatura ganz und gar bestimmt.
Man versteht zum Beispiel den »Aristotelismus« des heiligen Thomas von Aquin (Aristotelismus: das ist eine sehr anfechtbare Kennzeichnung, die nur mit Vorbehalt verwandt werden kann!), man versteht die innerste Meinung dieser Zuwendung zu Aristoteles schlechterdings nicht, wenn man sie nicht versteht von jenem bis in die äußerste Konsequenz gedachten Grundgedanken her, daß alle Dinge creatura sind, nicht nur Seele und Geist, sondern auch die Dinge der sichtbaren Weltwirklichkeit.
Nun mag es recht plausibel erscheinen und nicht sonderlich der Rede wert, jedenfalls nicht im mindesten überraschend, daß im Denken eines mittelalterlichen Theologen der Schöpfungsbegriff die Mitte auch der philosophischen Weltdeutung darstellt. Vielleicht möchte man es eher verwunderlich finden, wieso es sich hierbei um eine unausgesprochene Voraussetzung handeln soll, um eine nicht ausdrücklich formulierte Meinung, die sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen stünde. Hat nicht Thomas in aller Ausführlichkeit und Ausdrücklichkeit eine Lehre von der Schöpfung entwickelt? Natürlich ist das wahr und auch ziemlich allgemein bekannt. Es ist jedoch gleichfalls wahr, aber keineswegs durchweg bekannt, daß der Schöpfungsbegriff die innere Struktur nahezu aller Grundbegriffe der philosophischen Seinslehre des heiligen Thomas bestimmt und prägt. Und dieser Sachverhalt liegt nicht zutage; er findet sich kaum einmal ausdrücklich formuliert; er gehört zu dem Ungesagten der Seinslehre des heiligen Thomas. Dieses Element konnte so sehr unbemerkt bleiben, daß sogar die schulmäßige Thomasdeutung kaum einmal davon spricht, wie man wohl sagen darf. Freilich ist diese schulmäßige Thomasnachfolge weithin durch die Aufklärungsphilosophie bestimmt,[2] was sich nicht zuletzt gerade in |
115 dieser Verschweigung zeigt, die zu folgenreichen Mißverständnissen führen mußte und geführt hat. Man mißversteht zum Beispiel die Bedeutung von Sätzen wie »alles Seiende ist gut« oder »alles Seiende ist wahr« – man mißversteht also, wie ich glaube, die sogenannten »transzendentalen« Begriffe (im alten Sinn), wenn man nicht sieht, daß diese Sätze und Begriffe überhaupt nicht ein neutrales Sein im Sinn etwa der bloßen Vorhandenheit meinen, nicht ein ens ut sic, nicht eine antlitzlose Welt von »Objekten«, sondern formell das Sein als creatura. – Daß die Dinge gut sind dadurch, daß sie sind, und daß diese Gutheit mit dem Sein der Dinge identisch ist und nicht etwa bloß eine hinzukommende Eigentümlichkeit; daß ferner der Name »wahr« gleichfalls ein echtes Synonym für »seiend« ist,[3] daß also das Seiende als Seiendes wahr ist, nicht sozusagen erst einmal seiend und dann außerdem noch wahr – diese Gedanken, die zweifellos zum Grundbestand der klassischen Seinslehre des Abendlandes gehören und gerade durch Thomas eine geniale Formulierung gefunden haben, diese Gedanken verlieren, wenn man dabei das Seiende und die Dinge nicht formell als creatura faßt, einfach ihr Salz. Sie werden flach, steril, tautologisch – wie es denn auch in der Tat, aus eben diesem Grunde, das Schicksal all jener Sätze geworden ist, so daß Kant sie schließlich in einem berühmten Paragraphen der »Kritik der reinen Vernunft« zu Recht aus dem philosophischen Begriffsbestand ausgeschieden hat.[4] Damit sind wir beim Thema: die Wahrheitslehre des Thomas von Aquin kann in ihrer eigentlichen und tiefsten Aussage nur aufgefaßt werden, wenn man formell den Schöpfungsbegriff ins Spiel bringt. Und gerade die Verknüpfung des Begriffs der Wahrheit mit dem »negativen Element« der Unerkennbarkeit und des Geheimnisses, von welcher Verknüpfung hier die Rede sein soll – gerade dieser Zusammenhang wird erst sichtbar auf dem Grunde des Gedankens, daß alles, was Gegenstand menschlichen Erkennens werden kann, entweder creatura ist oder Creator.
116 Eine Anmerkung: Vielleicht bedeutet dies, daß die Wahrheitslehre des Thomas von Aquin also wesentlich nicht eine »rein philosophische« Lehre sei (sondern eine philosophisch-theologische Lehre); diese Frage kann hier offen bleiben; die Antwort wird davon abhängen, ob man den Begriff creatio für einen philosophischen oder einen theologischen Begriff hält.

Wahrheit als Erdachtsein

Natürlich ist es unmöglich, hier die gesamte Wahrheitslehre des heiligen Thomas in allen ihren Erstreckungen darzustellen; doch ist das auch nicht erforderlich, damit das Anliegen dieser Betrachtung deutlich werde. Unsere Darlegung wird sich im wesentlichen beschränken auf den Begriff der Wahrheit der Welt-Dinge, der veritas rerum, der »ontologischen« Wahrheit – wie man sie von der »logischen« oder der Erkenntniswahrheit abzugrenzen pflegt. Doch ist es schon nicht ganz richtig, diese beiden Wahrheitsbegriffe allzusehr gegeneinander abzusondern; für Thomas gehören sie sehr unmittelbar zusammen. Thomas würde zum Beispiel dem durchschnittlichen neuzeitlichen Einwand, wie er von Bacon bis Kant immer wieder formuliert worden ist: wahr könne doch nicht das Wirkliche heißen, sondern im strengen, eigentlichen Sinn nur das Gedachte – diesem Einwand würde Thomas in etwa zustimmen. Er würde antworten, das sei völlig zutreffend; nur das Gedachte heiße im strengen Sinne »wahr«; aber: die wirklichen Dinge seien etwas Gedachtes! Es ist den Dingen, so würde Thomas weiter sagen, sehr wesentlich, daß sie gedacht sind; sie sind dadurch wirklich, daß sie gedacht sind; man müßte hier freilich genauer sagen: dadurch, daß sie schöpferisch gedacht, das heißt, daß sie »erdacht« sind. Die Dinge haben ihr Wesen dadurch, daß sie erdacht sind: das ist sehr wörtlich und keineswegs etwa bloß »bildlich« zu verstehen. Und weil also die Dinge selber Gedanken sind und »Wortcharakter« besitzen (wie Guardini sagt[5]), darum können sie, in einem durchaus exakten und auch sprachgebräuchlich legitimen Sinn, »wahr« heißen – nicht anders als die Gedanken und das Gedachte sonst auch.
117 Thomas hat, wie es scheint, die Vorstellung, daß die Dinge ein Was, eine inhaltlich bestimmte Wesenheit besitzen, gar nicht trennen können von dem Gedanken, daß dieses Wesen der Dinge die Frucht eines entwerfenden, erdenkenden, schöpferischen Erkennens sei.
Dem neuzeitlichen Rationalismus liegt diese Verknüpfung fern. Wieso sollte man nicht vom »Wesen« der Pflanze und vom »Wesen« des Menschen sprechen können, ohne mitdenken zu müssen, diese Wesenheiten seien »erdacht«! Vom neuzeitlichen Denkgebrauch her ist nicht zu verstehen, daß es solche Wesenheit gar nicht sollte geben können, es sei denn als eine »erdachte«. Höchst seltsamerweise aber findet die These des heiligen Thomas allerneuestens eine ebenso unerwartete wie nachdrückliche Verteidigung – und zwar in den Ur-Sätzen des modernen, freilich durchaus nach-neuzeitlichen, Existentialismus. Von Sartre her, von seiner radikalen Verneinung des Schöpfungsbegriffs aus (er sagt ja: »Der Existentialismus ist nichts anderes als eine Bemühung, alle Folgerungen zu ziehen aus einer konsequent atheistischen Position«)[6] – von da her wird es plötzlich wieder neu vollziehbar, daß und wieso die Lehre von der Schöpfung tatsächlich der verborgene, aber eigentlich tragende Grund der klassisch-abendländischen Seinsmetaphysik ist. Wenn man Sartres Gedanken und den des heiligen Thomas auf syllogistische Form bringen wollte, so würde sich zeigen, daß beide von genau dem gleichen »Obersatz« ausgehen, nämlich von eben dem Satz: Es gibt ein Wesen der Dinge nur, sofern es erdacht ist. Weil es den Menschen und seine entwerfende Intelligenz gibt, die zum Beispiel einen Brieföffner erdenken kann und auch erdacht hat – darum, allein darum gibt es ein »Wesen« des Brieföffners. Und, so fährt Sartre fort, weil es keine schöpferische Intelligenz gibt, welche den Menschen und alle natürlichen Dinge erdacht, entworfen und mit ihnen etwas im vorhinein gemeint haben könnte, darum gibt es kein Wesen der nicht-gemachten, der nicht-artifiziellen Dinge. Ich zitiere wörtlich: »Es gibt kein Wesen des Menschen, weil es keinen Gott gibt, es zu erdenken«; »il n’y a pas de nature humaine, puisqu’il n’y a pas de Dieu pour la concevoir«.[7] Thomas aber sagt: weil und so|fern
118 Gott die Dinge erdacht hat, darum und insofern haben sie ein Wesen. »Eben dies, daß die Kreatur eine bestimmt geartete und eingegrenzte Substanz hat, zeigt, daß sie von irgend woher ihren Ursprung hat. Ihre Wesensform […] weist hin auf das WORT dessen, der sie gemacht hat, so wie die Gestalt eines Hauses auf den Entwurf des Baumeisters zurückweist«.[8] Das für Sartre wie Thomas Gemeinsame ist, wie man sieht, die Voraussetzung, daß vom Wesen der Dinge nicht gesprochen werden kann, es sei denn, sie würden ausdrücklich verstanden als creatura. Das Erdachtsein der Dinge aber durch den Creator – exakt dies meint Thomas, wenn er von der Wahrheit spricht, die allem Wirklichen innewohne.

Die Dinge sind erkennbar, weil sie
Kreatur sind

Der fundamentale Satz der Lehre des heiligen Thomas von der Wahrheit der Dinge findet sich in den Quaestiones disputatae de veritate;[9] er lautet: »res naturalis inter duos intellectus constituta [est]«, das natürlich Wirkliche ist zwischen zwei Erkennende gestellt, nämlich, so heißt es dann weiter, zwischen den intellectus divinus und den intellectus humanus.
In dieser »Ortsbestimmung« des Wirklichen zwischen dem absolut schöpferischen, erdenkenden Erkennen Gottes und dem nachbildenden, »sich richtenden« Erkennen des Menschen stellt sich die Bauform der Gesamtwirklichkeit dar als Struktur der sich verknüpfenden Urbilder und Nachbilder. Thomas verwendet hier den, in dieser nicht-quantitativen Bedeutung uralten, vermutlich pythagoreischen Begriff des »Maßes«, der mensura, des Maßgebens und Maßempfangens: das schöpferische Erkennen Gottes maß-gebend und nicht maß-empfangend (mensurans non mensuratum); das natürlich Wirkliche maß-empfangend und maß-gebend (mensuratum et mensurans); das menschliche Erkennen maß-empfangend und nicht maß-ge|bend
119 (mensuratum non mensuranti) – jedenfalls nicht maßgebend im Hinblick auf die natürlichen Dinge, wohl freilich im Hinblick auf die res artificiales (dies ist der Punkt, an dem für Thomas diese Unterscheidung zwischen geschaffenen und gemachten Dingen zum Tragen kommt).
Entsprechend der doppelten Bezogenheit der Dinge nun gebe es, so entwickelt Thomas seine Lehre, einen doppelten Begriff »Wahrheit der Dinge«: der erste besage die Erdachtheit durch Gott, der zweite die Erkennbarkeit für den menschlichen Geist. Der Satz »die Dinge sind wahr« bedeute also einmal: die Dinge sind von Gott schöpferisch erkannt; und ein andermal: die Dinge sind von sich aus zugänglich und faßlich für menschliches Erkennen. Es bestehe aber zwischen dem ersten Wahrheitsbegriff und dem zweiten das Verhältnis einer prioritas naturae, einer seinshaften Rangfolge.
Diese Priorität bedeutet zweierlei. – Erstens: Man kann den Kern des Begriffs »Wahrheit der Dinge« nicht auffassen, man verfehlt ihn einfach, wenn man sich weigert, die Dinge ausdrücklich als creatura zu denken, hervorgebracht durch das erdenkende Erkennen Gottes, hervorgegangen aus dem »Auge Gottes« (wie die altägyptische Seinslehre den gleichen Sachverhalt benannt hat). – Jene Priorität bedeutet aber noch ein Zweites: Die Erdachtheit der Dinge durch Gott begründet ihre Erkennbarkeit für den Menschen. Diese beiden Bezüge verhalten sich also nicht zueinander wie älterer und jüngerer Bruder (sozusagen), sondern wie Vater und Sohn; der erste bringt den zweiten hervor. Was bedeutet das? Das bedeutet: die Dinge sind erkennbar für uns dadurch, daß Gott sie erdacht hat; als von Gott erdachte haben die Dinge nicht nur ihr Wesen (sozusagen »für sich allein« ), sondern als von Gott erdachte haben die Dinge auch ein Sein »für uns«. Die Dinge haben ihre Intelligibilität, ihre innere Luzidität, Lichtheit, Offenbarkeit dadurch, daß Gott sie erdacht hat; dadurch sind sie wesentlich geistartig. Die Helligkeit und Lichtheit, die aus der schöpferischen Erkenntnis Gottes in die Dinge einströmt, zugleich mit ihrem Sein (nein: als ihr Sein selbst!) – diese Helligkeit, sie allein, macht die seienden Dinge gewahrbar für menschliches Erkennen. In einem Schriftkommentar[10] sagt Thomas: »So viel Wirklichkeit ein Ding hat, so |
120 viel Licht hat es«; und in einem Spätwerk, im Kommentar zum Liber de causis,[11] gibt es einen abgründigen Satz, der den gleichen Gedanken wie in einem mystischen Spruch formuliert: «Ipsa actualitas rei est quoddam lumen ipsius«; »das Wirklichsein der Dinge ist selber ihr Licht« – das Wirklich-sein der Dinge, verstanden als Geschaffensein! Dies Licht aber ist es, das die Dinge unserem Auge sichtbar macht. Mit einem Wort: die Dinge sind erkennbar dadurch, daß sie geschaffen sind!
An dieser Stelle läßt sich etwas Ähnliches in bezug auf die Erkenntnisbegründung sagen, wie Sartre es gegen die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts in bezug auf den Begriff »Wesen der Dinge« gesagt hat:[12] man glaube nur nicht, es vermöchte einer das Erdachtsein der Dinge durch Gott wegzudenken – und dennoch weiter zu verstehen, wie ein Erkennen der Dinge durch den Menschen möglich ist!

Die Dinge sind unergründlich, weil sie
Kreatur sind

Nach der Meinung des heiligen Thomas kann also, im Bereich der geschaffenen natürlichen Wirklichkeit, in zweierlei Sinn von »Wahrheit« gesprochen werden.
Erstens kann die Wahrheit der Dinge gemeint sein, welche primär bedeutet, daß die Dinge, als creaturae, dem urbildlichen schöpferischen Erkennen Gottes entsprechen; es ist diese Entsprechung selbst, worin formell die Wahrheit der Dinge besteht. – Zweitens kann von Wahrheit gesprochen werden im Hinblick auf das Erkennen (des Menschen), welches dadurch wahr ist, daß es, »maßempfangend«, der vorgegebenen, objektiven Wirklichkeit der Dinge entspricht. Es ist, wiederum, diese Entsprechung selbst, worin formell die Wahrheit des menschlichen Erkennens besteht. – In der Summa theologica finden sich diese beiden Wahrheitsbegriffe in dem gleichen articulus formuliert und einander gegenübergestellt: »Wenn die Dinge das Maß und die Richte der Erkenntniskraft sind, dann besteht die Wahrheit darin, daß die Erkenntniskraft sich den Dingen an|gleicht
121 […] Wenn aber die Erkenntniskraft die Richte und das Maß der Dinge ist, dann besteht die Wahrheit darin, daß die Dinge sich der Erkenntniskraft angleichen.«[13] Diese Sätze formulieren, wiederum von einem neuen Gesichtspunkt her, die Bauform jeglichen kreatürlichen Seins, das wesentlich zwischen das erdenkende Erkennen Gottes und das nachbildende des Menschen gestellt ist – ein unauslotbarer Gedanke!
Zwischen den beiden Entsprechungen (Geist zu Wirklichkeit einerseits, Wirklichkeit zu Geist anderseits), die beide, als »Angleichung« (adaequatio), auf je verschiedene Weise »Wahrheit« bedeuten – zwischen den beiden Entsprechungen gibt es nun einen fundamentalen Unterschied: daß nämlich die eine der Gegenstand menschlichen Erkennens werden kann und die andere nicht, daß die eine Entsprechung erkennbar ist für den Menschen und die andere nicht.
Der Mensch ist sehr wohl imstande, nicht allein die Dinge zu erkennen, sondern auch dies Entsprechungsverhältnis zwischen den Dingen und seinem eigenen Begriff von den Dingen. Das heißt: der Mensch ist, über das naive Gewahrwerden der Dinge hinaus, fähig, urteilend und reflektierend zu erkennen. Mit einem anderen Wort: menschliches Erkennen vermag nicht allein wahr zu sein, es vermag auch Erkennen der Wahrheit zu sein.[14]

Die Entsprechung der Dinge aber zum schöpferischen Erkennen Gottes, worin primär und eigentlichst die Wahrheit der Dinge besteht, welche hinwiederum menschliches Erkennen erst ermöglicht (cognitio est quidam veritatis effectus – das ist wieder so eine, das Gewohnte auf den Kopf stellende Formulierung des heiligen Thomas: die Erkenntnis eine Frucht der Wahrheit, eben der Wahrheit der Dinge!)[15] – diese das Wesen der Wahrheit der Dinge primär ausmachende Entsprechung, sage ich, zwischen dem natürlich Wirklichen und dem urbildlichen kreatorischen Erkennen Gottes – kann von uns nicht formell erkannt werden!
Wir vermögen wohl die Dinge zu erkennen, aber nicht formell ihre Wahrheit; wir erkennen das Nachbild, aber nicht seine Ent|sprechung
122 zum Urbild hin, nicht die Entsprechung zwischen dem Erdachten und dem Entwurf. Diese Entsprechung, in welcher, noch einmal, die formelle Wahrheit der Dinge primär besteht, vermögen wir nicht zu erkennen. Es ist dies also der Punkt, an welchem sich zeigt, wie Wahrheit und Unerkennbarkeit zusammengehören. – Doch bedarf dieser Gedanke noch der Präzisierung.
»Unerkennbarkeit« ist, sprachgebräuchlich, mehrdeutig, mindestens zweideutig. – Dieser Begriff kann besagen: etwas sei zwar »von sich aus« zugänglich für Erkennen, aber eine bestimmte Erkenntniskraft bekomme es dennoch nicht zu fassen, weil diese Erkenntniskraft nicht durchdringend genug sei. In solchem Sinn spricht man von Gegenständen, die »mit bloßem Auge nicht erkennbar« seien. Hier ist mehr vom Versagen des Auges als von einer objektiven Eigentümlichkeit des Gegenstandes die Rede: die Sterne, die wir nicht wahrnehmen, sind »von sich aus« sehr wohl sichtbar! Unerkennbarkeit, so verstanden, besagt: die Erkenntniskraft reicht nicht dazu aus, die objektiv durchaus bestehende Möglichkeit von Erkenntnis zu realisieren, zu aktivieren. – Unerkennbarkeit kann jedoch auch etwas anderes bedeuten, nämlich daß eine solche Möglichkeit überhaupt nicht bestehe; daß da sozusagen gar nichts zu erkennen sei; daß nicht nur auf der Seite eines bestimmten Erkenntnissubjekts die Auffassungs- und Durchdringungskraft nicht ausreiche, sondern daß auf der Seite des Objekts keine Erkennbarkeit bestehe.
Unerkennbarkeit in solchem Sinn, Unerkennbarkeit eines Wirklichen in sich selbst – dies ist für Thomas eine unvollziehbare Vorstellung. Weil alles Seiende Kreatur ist, das heißt von Gott erdacht, darum ist alles Seiende in sich selbst licht, hell, offenbar – und zwar dadurch, daß es ist! Unerkennbarkeit kann also für Thomas niemals bedeuten: es existiere da etwas in sich selbst Unwegsames und Dunkles; sondern nur: es sei da so viel Licht, daß eine bestimmte endliche Erkenntniskraft es nicht auszutrinken vermöge; es übersteige das Fassungsvermögen, es entziehe sich dem begreifenden Zugriff.
In diesem letzteren Sinn also ist hier von »Unerkennbarkeit« die Rede; und es wird behauptet, sie gehöre unmittelbar zum Begriff der Wahrheit der Dinge hinzu. Es wird hier, mit anderem Wort, behauptet: nach der Meinung des heiligen Thomas gehöre es zum Wesen der Dinge, daß ihre Erkennbarkeit durch eine |
123 endliche Erkenntniskraft nicht ausgeschöpft werden könne – weil die Dinge Kreatur seien, das heißt, weil die Ursache ihrer Erkennbarkeit notwendig zugleich die Unergründbarkeit der Dinge bewirke. Sehen wir noch näher zu.
»Die Dinge sind wahr« – dies bedeutet, so sahen wir, primär: die Dinge sind von Gott erdacht. Diesen Satz würde man, wie vorweg gesagt sei, von Grund auf mißverstehen, wollte man ihn einzig als eine Aussage über Gott nehmen, etwa als die bloße Feststellung eines göttlichen Tuns, das sich auf die Dinge richte. Nein, es wird über die Struktur der Dinge etwas ausgesagt. Es wird auf andere Weise der Gedanke Augustins[16] ausgesprochen, daß die Dinge sind, weil Gott sie sieht (während wir die Dinge sehen, weil sie sind). Es wird gesagt, das Sein und Wesen der Dinge bestehe in ihrem Erdachtsein durch den Creator. »Wahr« ist, wie schon gesagt, ein Seinsname, ein Synonym für »wirklich«; ens et verum convertuntur, es ist dasselbe, ob ich sage: »etwas Wirkliches«, oder ob ich sage: »etwas von Gott Erdachtes«. Es ist das Wesen aller seienden Dinge (als creatura), einem Urbild nachgeformt zu sein, das im absolut schöpferischen Erkennen Gottes wohnt; creatura in Deo est creatrix essentia, das Geschaffene ist in Gott schöpferische Wesenheit, so heißt es im Johannes-Kommentar[17] des heiligen Thomas; und in der Summa theologica: »Jedes Wirkliche besitzt insofern die Wahrheit seines Wesens, als es das Wissen Gottes nachbildet.«[18] Thomas hat, wie schon gesagt, dieses Entsprechungsverhältnis zwischen den Dingen und ihren göttlichen Urbildern in seinem Denken über die Wahrheit der Dinge, ja, über das Wesen der Dinge, offenbar gar nicht wegdenken und »auslassen« können. Das zeigt sich etwa darin, daß er es in fremde Texte hineingelesen hat, in denen wir keine Spur davon zu entdecken vermögen. Dafür ein Beispiel (es handelt sich hier um eine dieser »Sprunghaftigkeiten« und »Unebenheiten« der Gedankenführung, in denen, wie durch einen Spalt im Gefüge, das Ungesagte sich zeigt). Im zweiten Artikel der ersten Quaestio disputata de veritate formuliert Thomas den primären Begriff |
124 der Wahrheit der Dinge: »Das Wirkliche wird wahr genannt, sofern es das erfüllt, worauf es hingeordnet worden ist durch Gottes erkennenden Geist«; mit anderen Worten: wahr ist das Wirkliche, sofern es das Urbild des göttlichen Erkennens nachbildet. Und dann fährt Thomas fort: Dies werde auch deutlich, sicut patet, unter anderem in einer berühmten Definition des Avicenna – in welcher Definition aber, für unser Verständnis, nichts dergleichen gesagt ist! Wie nämlich lautet die Wahrheitsdefinition des Avicenna? Sie ist im Mittelalter ein fast klassisches Zitat gewesen: »Die Wahrheit eines jeglichen Dinges ist die Eigentümlichkeit seines Seins, das ihm zu beständigem Besitz gegeben ist«[19] – und durch diesen Satz, sagt Thomas, werde die These verdeutlicht, die Wahrheit der Dinge bestehe in ihrem Erdachtsein durch Gott! Niemals würden wir auf den Gedanken verfallen, hier überhaupt eine Beziehung zu bemerken. Diese offenkundige »Lücke« in der Argumentation kann man, wie gesagt, wohl nur so verstehen, daß Thomas den Gedanken, daß die Dinge ein Was, eine inhaltlich bestimmte Wesenheit besitzen, gar nicht hat trennen können von dem Gedanken, daß dieses Wesen der Dinge die Frucht eines entwerfenden schöpferischen Erkennens sei.
Nun aber zurück auf den Weg unserer eigenen Frage. Das zwischen dem Urbild in Gott und dem geschaffenen Nachbild bestehende Entsprechungsverhältnis selbst – worin die Wahrheit der Dinge formell und primär besteht – kann, wie gesagt, niemals eigens von uns ins Auge gefaßt werden; wir können niemals einen Standort betreten, von wo aus wir das Urbild mit dem Abbild zu vergleichen vermöchten; wir sind schlechthin unvermögend, dem Hervorgang der Dinge »aus dem Auge Gottes«, als Zuschauer sozusagen, beizuwohnen. Weil dies aber so ist, darum gerät unser Erkennen, wenn es nach dem Wesen der Dinge, selbst der niedersten und »simpelsten«, fragt, auf einen prinzipiell unbeendbaren Weg. – Der Grund hierfür ist also, daß die Dinge creatura sind; der Grund ist, daß die innere Luzidität des Seins ihren urbildlichen Ursprung in der grenzenlosen Lichtfülle des göttlichen Erkennens hat. Dieser Sachverhalt also ist |
125 mitausgesagt in dem Begriff der Wahrheit des Seins, wie Thomas ihn formuliert hat; seine Tiefe wird aber erst sichtbar, wenn die, für Thomas selbstverständliche, Verknüpfung mit dem Schöpfungsbegriff erkannt ist.
In diesem so verstandenen Wahrheitsbegriff besitzt demnach das Unerkennbarkeits-Element, das »negative« Element, seinen legitimen Ort und Ursprung.
Wir haben nur von der philosophia negativa des heiligen Thomas zu sprechen – wiewohl er auch die Prinzipien einer theologia negativa formuliert hat. Freilich tritt auch dieser Zug in den üblichen Darstellungen nicht sehr deutlich hervor; oft genug wird er geradezu unterschlagen. Man wird es nur selten erwähnt finden, daß die Gotteslehre der Summa theologia[20] mit dem Satz beginnt: »Wir vermögen nicht zu wissen, was Gott ist, wohl, was er nicht ist.« Mir ist kein Lehrbuch der thomistischen Philosophie begegnet, in welchem der Gedanke Platz gefunden hätte, den Thomas in seinem Kommentar zu Boethius De Trinitate[21] ausgesprochen hat: es gebe drei Stufen menschlicher Gotteserkenntnis; die niederste sei, Gott als den in der Schöpfung Wirkenden zu erkennen; die zweite Stufe sei, ihn im Spiegel der geistigen Wesen zu erkennen; die höchste Stufe, ihn als den Unbekannten zu erkennen: tamquam ignotum! Und gar der Satz der Quaestiones disputatae: »Dies ist das Äußerste menschlichen Gott-Erkennens: zu wissen, daß wir Gott nicht wissen«; »quod [homo] sciat se nescire«.[22] Was nun das negative Element in der Philosophie des heiligen Thomas angeht, so findet sich zwar der Satz von den Philosophen, deren Erkenntnisbemühung noch nicht einmal das Wesen einer einzigen Mücke zu erspüren vermocht habe, in einer fast im Volkston geschriebenen Erläuterung zum Symbolum Apostolicum;[23] doch steht er in einem recht engmaschigen Zusammenhang mit vielen anderen ähnlichen Sätzen.
Einige davon sind erstaunlich »negativ«, Beispiel der folgende: »Rerum essentiae sunt nobis ignotae«; »die Wesenheiten |
126 der Dinge sind uns unbekannt«.[24] Doch ist diese Formulierung keineswegs so ungewöhnlich und ausnahmehaft, wie sie zunächst erscheinen mag. Es ließen sich ihr (aus der Summa theologica, aus der Summa contra Gentes, aus den Aristoteles-Kommentaren, aus den Quaestiones disputatae) leicht ein Dutzend ähnlicher Sätze an die Seite stellen: »Principia essentialia rerum sunt nobis ignota«;[25] »formae substantiales per se ipsas sunt ignotae«;[26] »differentiae essentiales sunt nobis ignotae«.[27] Sie alle besagen, daß uns die »Wesensgründe«, die »substantiellen Wesensformen«, die »wesentlichen Unterschiede« der Dinge nicht bekannt seien. Dies sei, so sagt Thomas, auch der Grund, weswegen wir den Dingen einen wesentlichen Namen nicht zu geben vermöchten; vielmehr müßten wir die Namen vom Äußeren und Abgeleiteten hernehmen (wofür Thomas dann häufig diese hoffnungslosen mittelalterlichen Etymologien als Beispiel anführt – etwa daß lapis von laedere pedem herkomme[28]).
Nicht nur Gott selber, auch die Dinge haben einen »ewigen Namen«, den der Mensch nicht auszusprechen vermag. Das ist sehr präzis und nicht etwa »poetisch« gemeint. Und die abendländische Weisheitstradition stimmt hierin ganz und gar dem chinesischen Spruche zu, der diesem Buch vorangestellt ist.
Warum eigentlich, so fragt Thomas einmal, warum ist es uns unmöglich, Gott aus der Schöpfung vollkommen zu erkennen? Seine Antwort hat zwei Glieder; das zweite ist das für uns vor allem interessante. Erstes Glied der Antwort: Die Schöpfung spiegelt Gott notwendigerweise nur unvollkommen. Zweites Glied: Wegen der Blödheit und Stumpfheit unserer Erkenntniskraft (imbecillitas intellectus nostri) vermögen wir nicht einmal das in den Dingen zu lesen, was sie wirklich an Auskunft über Gott enthalten.[29] Um das Gewicht dieser Formulierung zu verstehen, muß man bedenken, daß nach der Meinung des heiligen Thomas die besondere Weise der Abbildung der göttlichen Vollkommenheit eben das besondere Wesen eines Dinges ausmacht: »Jegliche |
127 Kreatur besitzt das eigene Artwesen [propriam speciem], sofern sie auf irgendeine Weise teilhat an dem Abbild der göttlichen Wesenheit – so daß Gott, indem er sein eigenes Wesen erkennt als auf diese Weise abbildbar durch diese bestimmte Kreatur [ut sic imitabilem a tali creatura] – so daß Gott dann seine Wesenheit erkennt als den Grund und die Idee dieser Kreatur«.[30] Dieser Gedanke, der auf eine wiederum ganz neue und verwickelte Problematik hindeutet, besitzt eine sehr genaue Beziehung zu unserem Thema; es ist doch nichts anderes gesagt, als daß uns das Wesen der Dinge in seiner Tiefe unzugänglich bleibe, weil und sofern wir die Abbildung des göttlichen Urbildes als Abbildung nicht voll zu fassen vermögen.
Jene doppelgliedrige Antwort hat durchaus dialektische Struktur – widerspiegelnd die Bauform der creatura selbst, welche, per definitionem, zugleich aus Gott und dem Nichts ihren Ursprung genommen hat. Thomas sagt nicht nur, das Wirklichsein der Dinge sei ihr Licht, sondern auch »creatura est tenebra inquantum est ex nihilo«; »die Kreatur ist dunkel, sofern sie aus dem Nichts stammt« – der Satz steht nicht bei Heidegger, sondern in den Quaestiones disputatae de veritate[31] des Thomas von Aquin. – Und auch jene Antwort auf die Frage, warum wir Gott aus der Schöpfung nicht voll erkennen können, hat solche widerstrebig gefügte Struktur. Was nämlich ist gesagt?
Es ist gesagt: Die Dinge sprechen, durch ihr Wesen, Gott nur unvollkommen aus. Warum? Weil die Dinge Kreatur sind und weil die Kreatur den Creator unmöglich vollkommen aussagen kann. Dennoch, so geht die Antwort weiter, die Lichtfülle sogar dieser unvollkommenen Aussage übersteigt menschliches Begreifen. Warum? Weil auch der Mensch Kreatur ist, vor allem aber, weil die Dinge in ihrem Sein auf einen göttlichen Entwurf zurückweisen, was wiederum heißt: weil die Dinge Kreatur sind.
128
Die Hoffnungsstruktur kreatürlichen Erkennens

Wir haben von dem »negativen Element« in der Philosophie des heiligen Thomas von Aquin gesprochen. Es zeigt sich hier, daß und wieso diese Formulierung mißverständlich ist, und daß sie einer präziseren Fassung, ja fast einer Korrektur bedarf.
Das »Negative« liegt jedenfalls nicht darin, daß etwa in der menschlichen Erkenntnis das Sein der Dinge nicht erreicht würde. »Intellectus […] penetrat usque ad rei essentiam«; »der Geist dringt vor bis zum Wesen der Dinge«: dieser Satz[32] bleibt für Thomas gültig – trotz des anderen Satzes, daß die Erkenntnismühe der Philosophen das Wesen nicht einer einzigen Mücke zu begreifen vermocht habe. Diese beiden Sachverhalte gehören zusammen. Ja, daß die Erkenntniskraft die Dinge erreicht, dies erweist sich gerade darin, daß sie in den unauslotbaren Abgrund des Lichtes gerät. Weil und indem der Geist das Sein der Dinge erreicht, erfährt er ihre Unergründlichkeit – wie Nicolaus Cusanus[33] es in seiner Deutung des sokratischen »wissenden Nichtwissens« gesagt hat: nur wer das Licht sehend anrühre, der erfahre, daß die Helligkeit der Sonne die Sehkraft übersteige.
Von Agnostizismus kann bei Thomas keine Rede sein; und die Neuscholastik hat durchaus recht, das mit Nachdruck hervorzustellen. Es ist jedoch, glaube ich, nicht möglich, den wahren Grund dieses Sachverhalts deutlich zu machen, ohne den Schöpfungsbegriff formell ins Spiel zu bringen, das heißt, ohne zu sprechen von der Bauform der Dinge als creatura – welche Bauform bedeutet, daß die Dinge aus ihrer Erdachtheit durch den Creator beides haben: ihre seinsmäßige Lichtheit und Offenbarkeit wie auch, im selben, ihre Unergründlichkeit und »Unaustrinkbarkeit«, ihre Erkennbarkeit wie ihre »Unerkennbarkeit«. Ohne den Rückgriff auf diesen Grund läßt sich, so scheint mir, nicht zeigen, wieso das »negative Element« in der Philosophie des heiligen Thomas nichts mit Agnostizismus zu tun hat. Wer versucht, ohne jenen Rückgriff auszukommen, der gerät, wie das Beispiel mancher neuscholastischer Systemversuche zeigt, notwendig in die Gefahr, Thomas als Rationalisten zu interpretieren, das heißt, ihn erst recht zu mißdeuten.
129 Vielleicht kann man sagen, es komme in der Lehre des heiligen Thomas die Hoffnungsstruktur der Existenz des Menschen als eines Erkennenden zum Ausdruck, eine wesentlich nichtfixierbare Struktur: weder schlechthin Begreifen und »Haben« noch einfachhin Nicht-Haben, sondern Noch-nicht-haben! Der Erkennende ist gesehen als »viator«, als einer, der auf dem Wege ist. Das heißt einerseits: seine Schritte haben Sinn, sie sind nicht prinzipiell vergeblich, sie nähern sich dem Ziel. Dies aber ist nicht ohne das andere Element zu denken: solange der Mensch, als ein Existierender, »auf dem Wege ist«, so lange ist auch der Weg seines Erkennens unbeendlich. Und diese Hoffnungsstruktur des nach dem Wesen der Dinge fragenden, philosophierenden Erkennens gründet, noch einmal mag es gesagt sein, darin, daß die Welt creatura ist, die Welt und der erkennende Mensch selber!
Weil aber Hoffnung dem Ja näher ist als dem Nein, so muß auch das »negative Element« in der Philosophie des Thomas von Aquin, das zu formulieren wir ausgezogen sind, gesehen werden auf dem Grunde einer umfassenderen Bejahung. Die Unerkennbarkeit des Wesens der Dinge ist zwar im Begriff der Seinswahrheit mitgegeben; aber sie bedeutet so wenig objektive Unzugänglichkeit, Verschlossenheit, Dunkelheit der Dinge, daß, im Gegenteil, dieses paradox Scheinende gesagt werden kann: die Dinge sind, in ihrem letzten Grunde, unerkennbar für den Menschen, weil sie – zu sehr erkennbar sind.
So hat auch Thomas selbst in dem berühmten Aristoteles-Satz[34] von den Augen des Nachtvogels, die gerade des Hellsten nicht gewahr werden (ebenso verhalte sich des Menschen Erkenntniskraft zu den alleroffenbarsten Dingen) – Thomas hat das Bejahende in diesem Satz, den er im übrigen durchaus akzeptiert, ausdrücklich zu Wort gebracht in der wunderbaren Formulierung:[35] »Solem etsi non videat oculus nycticoracis, videt tamen eum oculus aquilae«; »mag auch das Auge des Nachtvogels die Sonne nicht sehen, es schaut sie dennoch das Auge des Adlers«.

[1] M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947, S. 5.[2] Dies zeigt K. Eschweiler in seinem Buche Die zwei Wege der neueren Theolo|gie,
Augsburg 1926, völlig deutlich (S. 81ff., 283, 296), mag im übrigen manche These dieses Buches anfechtbar sein.[3] Vgl. J. Pieper, Wahrheit der Dinge, München 31957, S. 34 (Werke 3, S. 117); vgl. Wirklichkeit und Wahrheit (in diesem Band, S. 89ff., 96f.).[4] Es ist der Paragraph 12 über den »unter Scholastikern so berufenen« Satz »omne ens est unum-verum-bonum«.[5] R. Guardini, Welt und Person, Würzburg 1940, S. 110.[6] J.-P. Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris 1946, S. 94.[7] Ebd., S. 22.[8] I, 93, 6. – Ähnlich heißt es in dem gleichen Werk (I, 45, 7): »Sofern sie [= die Kreatur] Gestalt und Wesen hat, vergegenwärtigt sie [repraesentat] das WORT, gleichwie die Gestalt des Kunstwerks aus dem Entwurf des Künstlers stammt.«[9] Ver. 1, 2.[10] In 1 Tim. 6, 4.[11] De causis I, 6.[12] L’existentialisme, S. 20ff.; vgl. auch weiter unten S. 142.[13] I, 21, 2.[14] I, 16, 2.[15] Ver. 1, 1.[16] Bekenntnisse 13, 38; vgl. auch Über die Dreieinigkeit 6, 10.[17] In Joh. I, 2.[18] I, 14, 12 ad 3.[19] Thomas selbst zitiert den Satz zum Beispiel in der Summa theologica (I, 16, 1) in der Summa contra gentes (I, 60), in den Quaestiones disputatae de veritate (1, 2).[20] »Quia de Deo scire non possumus quid sit, sed quid non sit, non possumus considerare de Deo quomodo sit, sed potius quomodo non sit« (I, 3, prologus).[21] I, 2 ad 1.[22] Pot. 7, 5 ad 14.[23] Im ersten Kapitel.[24] Ver. 10, 1.[25] De An. I, 1 (n. 15).[26] De spir. creat. 11 ad 3.[27] Ver. 4, 1 ad 8.[28] Ebd.[29] Ver. 5, 2 ad 11.[30] I, 15, 2.[31] Ver. 18, 2 ad 5.[32] I, II, 31, 5.[33] Apologia doctae ignorantiae 2, 20ff.[34] Metaphysik 2, 1; 993 b.[35] In Met. 2, 1 (n. 286).

By Published On: Oktober 29, 2025Categories: Alle Beiträge, Philosophie, Theologie0 Comments on AionTags:

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