Totale Bildung von Josef Pieper (1933/35)

Die These, die im folgenden dargelegt und begründet werden soll, lautet: Nur totale Bildung ist wirklich Bildung; echte Bildung ist entweder total, oder sie ist überhaupt nicht.
Die Begründung dieser These verlangt Antwort auf mehrere Fragen, vor allem auf die Fragen: Was unter »Bildung« zu verstehen sei, und was das Prädikat »total« besage. – Es ist also notwendig, zuerst diese Begriffe in möglichster Klarheit zu bestimmen.
Der Begriff Bildung kann einen Vorgang bedeuten, das Bilden und Gebildetwerden,[1] und einen Person-Zustand, die Gebildetheit. – Im folgenden wird Wort und Begriff Bildung in der Regel im zweiten Sinn, als Person-Zustand, verstanden werden.
Bildung ist der Zustand der Formverwirklichung, der Ausgeformtheit. Und zwar ist dieser Zustand ein Person-Zustand; Bildung ist ein Prädikat des Menschen; es bezeichnet den Zustand der Verwirklichung der menschlichen Wesensform. Ein gebildeter Mensch ist in höherem Grade Mensch als ein ungebildeter; was in diesem als bloße Möglichkeit ruht, das eigentlich Menschliche, ist im gebildeten Menschen verwirklicht.
Ist also Bildung und Vollkommenheit das Gleiche? Ist also der gebildete Mensch vollkommen und der vollkommene Mensch gebildet? – Um diese Frage zu beantworten, muß man sich klar machen, was jenes »eigentlich Menschliche« ist, in dessen Verwirklichung das Wesen der Bildung (und anderseits der Vollkommenheit) bestehen soll.
311 Der Mensch ist, was er ist, durch seine geistige Seele. Durch die Geistigkeit der Seele unterscheidet er sich von allen übrigen körperhaften Lebewesen; daß aber die geistige Seele die innere prägende Form eines organischen Leibes ist, d.i. daß sie eben »Seele« ist, unterscheidet den Menschen vom reinen Geist. – Geist ist immer Vernunft und Wille; erkennendes Hereinnehmen des gegenständlichen Seins und auf dieser Erkenntnis gegründeter, wollender Ausgriff in die Seinswelt hinein. – Die geistig erkennende und wollende Seele ist also das »eigentlich Menschliche« im Menschen. Auf Vernunft und Willen sind also die Begriffe Bildung und Vollkommenheit vor allem zu beziehen.
Der Sprachgebrauch ordnet, so vieldeutig er im übrigen auch sein mag, den Begriff Bildung mit übereinstimmender Eindeutigkeit der Vernunft, dem Erkennen zu; der gebildete Mensch ist primär der Erkennende, der Weise.[2] Erkennen und Wissen werden dabei von uns nicht verstanden in ihrer Unterschiedenheit gegen den Glauben; in diesen Begriffen ist vielmehr jedes »Vernehmen« und Gewahrwerden einer Wirklichkeit gemeint; so daß der Glaube hier als eine besondere Weise des Erkennens und Wissens aufgefaßt ist. – Diese ganz allgemeine Fassung des Wissensbegriffes als eines irgendwie gearteten Gewahrwerdens der Wirklichkeit schließt natürlich auch jede rationalistische Verengung etwa auf das reflektierte, schlußfolgernde und »verstandesmäßige« Denken aus; so ist z.B. das »intuitive« Erkennen, das auf einer existentiellen, emotional betonten Bindung des Erkennenden an das Erkannte zu beruhen pflegt, durchaus unter unserem Wissensbegriff mitgemeint. – Sodann kann schon hier vorgemerkt werden, daß aus dieser umfassenderen Bestimmung der Erkenntnis auch ein umfassenderer, von dem üb|lichen
312 in etwa abweichender Begriff der Bildung sich ergeben muß.
Ist also der Begriff der Bildung dem Erkennen beigeordnet, so ist anderseits der Begriff der Vollkommenheit ebenso eindeutig auf den Willen bezogen; der schlechthin vollkommene Mensch ist der gute, heilige Mensch. »Gut aber ist der Mensch nicht, weil er einen guten Verstand hat, sondern weil er einen guten Willen hat« (Thomas von Aquin).
Das Verhältnis von Vernunft und Wille bestimmt also – wenn auch nicht in einfacher und geradliniger Zuordnung – auch das Verhältnis von Bildung und Vollkommenheit. Die Vernunft ist die Wurzel und das Fundament des Willens; Wollen ist nur möglich auf Grund einer voraufgehenden Erkenntnis; gutes Wollen setzt wahre Erkenntnis voraus; und der Glaube, d.i. das Vernehmen der übernatürlichen Wirklichkeit, fundiert das übernatürliche Wollen, die Liebe (caritas). – So ist Bildung das Fundament und die natürliche Wurzel der Vollkommenheit.
Jedoch: Wahre Erkenntnis ist zwar aus sich darauf angelegt, gutes Wollen (und Handeln) zu begründen, sich in gutes Wollen und Handeln hinein fortzupflanzen; aber: Wissen ist nicht schon Tugend, wahres Erkennen bedeutet nicht notwendig schon gutes Wollen. Zwischen der Erkenntnis des Guten und dem Wollen des Guten, zwischen dem »Guten unter dem Gesichtspunkt des Wahren« und dem »Guten unter dem Gesichtspunkt des Guten« liegt das Geheimnis der menschlichen Freiheit, der Sünde und der göttlichen Gnade. – Ein gebildeter Mensch kann sehr unvollkommen sein; und auch die Dämonen haben den Glauben (Jak 2, 19). – Erst wenn das Wollen dem Erkennen folgt, und wenn der Glaube sich bewährt in der Liebe, entsteht Vollkommenheit.
Über das Verhältnis von Bildung und Vollkommenheit gilt also folgendes: Erstens ist Bildung nicht gleich Vollkommenheit; zweitens: Bildung ist aber aus ihrer innersten Natur heraus auf Vollkommenheit hingeordnet wie das Fundament auf den Bau, so daß Bildung ohne Vollkommenheit wesensmäßig unvollständig, Torso, Fragment bleibt. Drittens: Vollkommenheit setzt Bildung voraus und schließt sie ein. So daß also nur ein gebildeter Mensch vollkommen sein könnte, während der Ungebildete von der Vollkommenheit ausgeschlossen bliebe? Diese Folgerung mag – vor allem im Hinblick auf manche Heiligengestalt – gewagt oder gar glattweg falsch erscheinen. Es ist jedoch zu be|denken,
313 daß der Begriff Bildung hier erstens in einer umfänglicheren Bedeutung verstanden wird, die auch den Erkenntniskontakt mit der übernatürlichen Wirklichkeit ausdrücklich einschließt; daß wir ihn zweitens nicht nur auf der Stufe des reflektierten Wissens, sondern nicht minder auf der Stufe der volkstümlichen Erkenntnisweise für realisierbar halten. Anderseits möchten auch wir die Geltung jenes dritten Satzes – Vollkommenheit schließt Bildung ein – beschränken auf den Bereich des Normalen und Ordentlichen[3].
Der Begriff der Bildung also bezeichnet den Zustand der Ausgeformtheit der menschlichen Wesensform; genauer gesagt: der geistigen Seele in ihrer fundierenden Strukturseite, der Fähigkeit, zu erkennen und zu wissen. – Ausgeformtheit, Wesensverwirklichung: diese Begriffe können in ihrem konkreten Inhalt nicht verstanden werden ohne das Verständnis der »Form« und des »Wesens«, deren Vervollkommnung sie jeweils bezeichnen sollen. In unserem Falle heißt das: Bildung kann in ihrem begrifflichen Wesen nur erfaßt werden, wenn das Wesen der geistigen Seele – unter dem Aspekt des ihre Wesenheit begründenden Erkenntnisvermögens – klar begriffen ist.
314 Die geistige Seele ist im Bereich der natürlich erkennbaren Schöpfung die höchste Form des »Inneren«. – Der Begriff des »Inneren« (oder des »Innen«) bezeichnet die Tatsache eines dynamischen Wesensmittelpunktes, auf den alles passive Erleiden und Empfangen gesammelt bezogen ist, und von dem aus alles Tätigsein seinen Ursprung nimmt; die mit einem »Inneren« begabten Wesen haben die Seinsweise des »Subjekts«, der auf sich selbst bezogenen Ganzheit.
Die anorganischen Dinge haben kein Innen; ein Stein hat nur im Sinne der räumlichen Lage seiner Teile, nicht aber im vollen, qualitativen Sinne ein Inneres. Zwar ist die bloße Substantialität der anorganischen Dinge – ihr In-sich-sein, ihr Ding-sein – eine Art Vorform und Gleichnis des eigentlichen Innen; aber sie erreicht doch die Seinsordnung der mit einem echten Inneren begabten Wesen keineswegs. – Die Pflanze hat ein echtes Innen; es ist die unterste Stufe des Innen. – Die nächsthöhere Stufe ist das Tier, das mit der Fähigkeit wirklichen (sinnlichen) Erkennens begabt ist; im Funktionsgefüge des pflanzlichen Lebens nimmt die »Reizbarkeit«, als eine Vorform des Erkennens, diese Stelle ein. – Die höchste Form des Innen ist verwirklicht auf der Seinsstufe des geistigen Erkennens, in dem das geistige Leben gründet. – Das Prinzip dieser Stufenreihe ist die wachsende Innerlichkeit der Lebensvorgänge; »ein Wesen ist um so höherer Ordnung, je mehr seine Hervorbringungen ihm innerlich bleiben«.[4] Mit dem Begriff des Inneren ist der Begriff der »Welt« im Sinne der Um-Welt und der Außen-Welt unmittelbar gegeben. Erst von einem Innen her gibt es ein »Außen« als »Außen«, nur für ein mit einem Innen begabtes Wesen kann es »Welt« als »Welt« geben; ohne den »Eigenstand« des Innen kein »Gegenstand« als »Gegen-Stand«.
Die Tatsache des Inneren begründet erst die Möglichkeit, und sie bedeutet auch ganz unmittelbar die Wirklichkeit einer besonderen Form der »Beziehung« (zu etwas), die dem anorganischen Seinsbereich, dem Bereich ohne Inneres, durchaus fremd |
315 ist. Man kann sagen: Erst wo ein Innen ist, kann es überhaupt »Beziehung« im strengen Sinn geben. Der Stein etwa hat, obwohl auch er natürlich »mit« und »neben« anderen Dingen »in« der Welt ist, doch keine eigentliche Beziehung zu dieser Welt und zu diesen benachbarten Dingen. Man hat mit Recht versucht, auch in der sprachlichen Bezeichnung dieses rein äußerliche, rein faktische und objektive Nebeneinander als »Bezug« abzugrenzen gegen die eigentliche »Beziehung«, die subjektiv tätig gesetzt, von »innen« her nach »außen« hin geknüpft ist. Das Nebeneinander der Sandkörner in einem Sandhaufen ist »Bezug« (räumliche Entfernung, Druck, Adhäsion usw.); das »Nebeneinander« der Pflanze und der Nährsalze, die sich im Bereich ihrer Wurzeln befinden, ist (einseitige) »Beziehung«, ein Zueinanderhin«; die Salze sind »einbezogen« in den Umkreis des pflanzlichen Lebens. Dieses »Beziehen« und »Einbeziehen« macht eben den ursprünglichen, aktiven Sinn des Begriffes »Beziehung« aus.
Ein Innen haben heißt also: »beziehungsfähig«, Träger und Mittelpunkt eines »Beziehungsfeldes« sein.
Diese Überlegung führt hin zu der Erkenntnis: daß jene nach Seinsgraden geordnete Stufenreihe von Pflanze, Tier und Mensch zugleich auch eine geordnete Stufenreihe der ihnen je zugeordneten Beziehungsformen und Beziehungsfelder bedeutet. – Der seinsmäßig höheren Form der Innerlichkeit entspricht eine qualitativ höhere Weise der Wirklichkeitsbeziehung und damit ein höher dimensioniertes Beziehungsfeld, eine höher dimensionierte »Welt«.
Die »Welt« der Pflanze reicht über die unmittelbare Berührungsnähe nicht hinaus. – Die »Welt« des Tieres baut sich auf aus den Gegebenheiten seiner Sinneswahrnehmung; diese »Welt« reicht nicht weiter und nicht tiefer, als eben sinnliche Erkenntnis dringt, die ihrem Wesen nach »nur sozusagen auf den bunten Strahlenkranz, nicht auch auf den Kern des Lichtes« geht (André). »Die Sinneserkenntnis erfaßt nicht die Wesenheiten der Dinge, sondern nur ihre äußeren Merkmale«.[5] – Die »Beziehungsfähigkeit« der geistigen Seele und damit ihr Beziehungsfeld, ihre »Welt«, ist durch zwei Prädikate zu bezeichnen; erstens: »Die geistige Erkenntnis allein erfaßt die Wesenheiten |
316 der Dinge[6]«, zweitens: Der Geist ist bezogen auf die Gesamtwirklichkeit – respicit universaliter omne ens.[7] Also: »das Wesen der Dinge« und »die Gesamtheit der Dinge« – das sind die begrifflichen Zeichen für die Dimension und den Umfang der »Welt«, die der geistigen Seele zugeordnet ist. Beides ist auf das engste miteinander verknüpft: Nur wer das Wesen der Dinge erreicht, kann ihre Gesamtheit umfassen. – Selbstverständlich unterliegt – in der Verwirklichungsweise – beides, die Erkenntnis des Wesens der Dinge und die Erkenntnis der Gesamtheit der Dinge, den Bedingungen, die mit der Endlichkeit und Kreatürlichkeit des Menschen gegeben sind. »Totalität« der Erkenntnis ist im Bereich des geschaffenen Geistes nur auf Hoffnung hin verwirklichbar. – Ferner ist zu bedenken, daß selbstverständlich die Verwirklichung dieser kreatürlich unvollkommenen Totalität dem Reifealter des Menschen zugeordnet ist.
Wir sind ausgezogen, das Wesen der Bildung zu umgrenzen und festzulegen. Und wir sagten, Bildung bedeute dem Wortsinn nach Ausgeformtheit; und zwar bedeute sie die Ausgeformtheit des eigentlich Menschlichen im Menschen, näher gesagt, die Ausgeformtheit der geistigen Seele, und zwar unter dem Aspekt des Erkenntnisvermögens, das alles geistige Leben fundiert. Weiter fragten wir: Was denn das Wesen der erkennenden Geist-Seele sei; denn ohne eine Antwort darauf ist es nicht möglich zu erkennen, worin die Ausgeformtheit und Wesensverwirklichung der erkennenden Geist-Seele – das heißt: Bildung – besteht. Die geistige Seele erwies sich uns als die höchste Form des Innen. Das Innen aber ist wesentlich Beziehungsfähigkeit. So daß die Geist-Seele als höchste Stufe des Innen auch die höchste Verwirklichung der Beziehungsfähigkeit ist. Da nun Beziehung[8] immer Beziehung »zu etwas« ist, so ist die Beziehungsfähigkeit eines Beziehungsträgers ausdrückbar durch sein Beziehungsfeld, durch seine »Welt«. Das Beziehungsfeld der geistigen Seele ist, so sahen wir, »die Gesamtheit der Dinge«. Das Wesen der Geist-Seele kann also bestimmt werden durch |
317 ihre Beziehung zur Totalität des Seienden, durch ihre »Offenheit« zur Gesamtwirklichkeit hin.
Die Weise dieser Beziehung zwischen der geistigen Seele und der Gesamtheit des Wirklichen ist erstlich das geistige Erkennen (und, ihm folgend, das geistige Wollen). Erkennen – verstanden nicht als Werdensvorgang, sondern als vollendete Seinstatsache – ist eben nichts anderes als das In-Beziehung-stehen des Geistes mit der Wirklichkeit. Über die Artung der geistigen Erkenntnis kann hier nicht im einzelnen gehandelt werden. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, daß Erkenntnis Wirklichkeitsbeziehung ist, und daß das Wesen der geistigen Seele, deren Kern und Wurzelgrund eben das Erkenntnisvermögen ist, bestimmt werden muß als Beziehung zur Wirklichkeit und zwar zur Gesamtwirklichkeit.
Das Beziehungsfeld, die »Welt«, der geistigen Seele ist also die Gesamtwirklichkeit; der Mensch ist und wirkt wesensmäßig inmitten der Gesamtwirklichkeit.
Dieser Gedanke, der durchaus im Mittelpunkt der vorliegenden Abhandlung steht, muß in aller Klarheit erfaßt werden. – Der Akzent liegt dabei auf Gesamt-Wirklichkeit.
Thomas von Aquin nennt die geistige Seele ein natum convenire cum omni ente, ein Sein, das dafür geschaffen ist, zu allem Seienden in Beziehung zu treten.[9] Und zwar will er damit nicht eine zufällige Eigentümlichkeit der geistigen Seele bezeichnen, sondern ihr Wesen selbst. – An vielen Stellen seines gewaltigen Werkes nimmt Thomas den merkwürdigen Satz des Aristoteles[10] auf: »anima est quodammodo omnia«, die geistige Seele ist gewissermaßen alles, sie ist gewissermaßen das All, die Gesamtwirklichkeit.[11] Dieser Satz besagt genau das gleiche: nämlich daß es im Wesen der Geist-Seele liege, auf die Gesamtheit des Seienden bezogen zu sein.[12] – Ja, die wesensmäßige Ausrich|tung
318 der erkennenden Geist-Seele auf die Gesamtheit der Dinge bestimmt geradezu die ontologische Struktur der Gesamtwirklichkeit selbst: Es gehört nämlich zu den allgemeinsten Bestimmungen des Seienden als Seienden, im Beziehungsfeld der geistigen Seele zu liegen. Die Aussagen »seiend« und »im Beziehungsfeld der geistigen Seele liegend« meinen einen und denselben Sachverhalt. Das und nichts anderes ist der Sinn der alten, für den Menschen von heute so schwer verständlichen philosophischen Fundamentalsätze: Omne ens est verum – alles Seiende ist »wahr«, und: ens et verum convertuntur – Sein und Wahr-sein sind vertauschbare Begriffe. Der Begriff »wahr« bedeutet nämlich in diesen Fundamentalsätzen nichts anderes als die Erkennbarkeit der Dinge durch den menschlichen Geist (und ihre wirkliche Erkanntheit durch den absoluten, den göttlichen Geist). Wenn wir also sagen: »Alles Seiende ist erkennbar«, so haben wir damit nichts anderes gesagt als: »Alles Sein liegt im Beziehungsfeld der geistigen Seele«. Und der Satz: »Sein und Erkennbar-sein ist ein und dasselbe« besagt nichts anderes als der Satz: »Sein und Bezogen-sein auf die geistige Seele ist ein und dasselbe«. – Auch dieser ontologische Gedankengang also drückt den von uns zugrunde gelegten Sachverhalt aus: Die geistige Seele ist bezogen auf die Totalität des Wirklichen, und in dieser Bezogenheit liegt ihr Wesen.
Damit sind wir auf dem Scheitelpunkt unserer Darstellung angelangt: Wenn Bildung die Ausgeformtheit der erkennenden Geist-Seele ist, und wenn das Wesen der erkennenden Geist-Seele in ihrer Bezogenheit auf die Gesamtheit des Wirklichen liegt, dann ergibt sich, daß die Verwirklichung des Person-Zustandes der Bildung nichts anderes ist als die Verwirklichung der Bezogenheit der geistigen Seele auf die Totalität des Seienden. Einfacher und kürzer ausgedrückt: Das Wesen der Bildung besteht in dem Total-Überblick über die Wirklichkeit. In diesem Sinn ist echte Bildung »total«.
Thomas von Aquin sagt dasselbe mit seinem berühmten Satze: Die Wesensverwirklichung der erkennenden Geist-Seele besteht darin, daß »sich in ihr einzeichne die ganze Ordnung des Universums und seiner Ursachen«, totus ordo universi et causa|rum
319 eius.[13] – Damit erfüllt sich zugleich die naturhafte Wesenssehnsucht des Geistes, der aus dem Wurzelgrunde seines Seins darauf zielt, das Ganze, das Vollendete, das Runde zu erkennen; Thomas von Aquin und Augustin werden nicht müde, das zu wiederholen.[14] Es ist hier der Punkt, festzustellen, daß der Sinn des Wortes »total« – in unserer Forderung »totaler Bildung« – jetzt bereits im Umriß aufgehellt ist. Immerhin sind noch einige abgrenzende Bemerkungen notwendig.
»Totale« Bildung ist begründet im Total-Überblick über die Wirklichkeit. In dem Begriff des Total-Überblicks verschränken sich zwei Bedeutungen. – Die erste Bedeutung ist diese: daß unter Total-Überblick ein Wissen davon verstanden wird, wie es mit der Wirklichkeit als Ganzem sich verhält; der Total-Überblick in diesem Sinne ist »total« in einer rein formalen Bedeutung, die von allem Inhaltlichen, etwa von den verschiedenen zum Ganzen sich zusammenschließenden Teilbereichen der Wirklichkeit, noch durchaus absieht. – Die zweite Bedeutung von »Total-Überblick« geht mehr auf das Inhaltliche; nicht so sehr also auf die Ganzheit der Wirklichkeit, als auf die Gesamtheit der wirklichen Dinge. – Wie gesagt, verschränken sich in unserem Begriff der totalen Bildung (als Total-Überblick) beide Bedeutungen. Grundlegend jedoch ist die erste Bedeutung; den Total-Überblick im erstlichen und eigentlichen Sinne hat der, der weiß, wie es mit der Wirklichkeit als Ganzem sich verhält. – Der auf die inhaltliche Stufenordnung der Wirklichkeit, d.i. auf die Gesamtheit der wirklichen Dinge gerichtete Total-Überblick, der indes in jenem Wissen um »die Welt als Ganzes« wurzelt, läßt verschiedene Grade und »Dimensionsstufen« zu; er kann mehr oder weniger differenziert sein. Der formale Total-Überblick in jenem ersten und fundamentalen Sinn dagegen hat keine Stufen und Grade; er ist entweder da, oder er ist nicht da.
Wenn wir sagten, im Total-Überblick über die Wirklichkeit liege das Wesen der Bildung, so ist damit ausgesprochen, daß ein Wissen, in dem sich die – wenn auch noch so breite – Mannigfal|tigkeit
320 und Vielheit des Gewußten nicht zum Ganzen zusammenfügt, niemals echte Bildung begründen kann.
Zweierlei also ist dadurch ausgeschlossen: Das »enzyklopädische« und das nur spezialistische Wissen. – Mit dem Wort »Enzyklopädismus« ist das aufklärerische Bildungsideal der möglichsten Anhäufung von Einzelwissen bezeichnet. Natürlich schließt der Total-Überblick über die Wirklichkeit Einzelwissen nicht nur nicht aus, sondern fordert es und setzt es voraus. Aber erst durch die gestaltende Ordnung und die innere Durchformung des Vielerlei zum Total-Überblick entsteht Bildung. Nicht die Einzeldinge der Gesamtwirklichkeit als Einzeldinge sollen sich »in die Seele einzeichnen«, sondern der »totus ordo universi«, die Ordnung des Universums. – Ferner bedeutet ein spezialistisches, ins Einzelnste sich vertiefendes Fach-Wissen erst dann keine Verkümmerung des wesenhaft auf das Ganze angelegten Menschengeistes, wenn es erwächst auf dem Boden des Total-Überblicks. Ja, ein aus den Wurzelkräften eines totalen Wirklichkeitsbildes sich nährendes Fachwissen wird in sich selbst zum »Total-Überblick«: dem vom Ganzen her in das Einzelne sich versenkenden Blick offenbart sich das Einzelne in seinem Teil-Charakter und damit als Widerspiegelung des Ganzen. Isoliertes, aus dem Boden des Total-Überblicks abgelöstes und entwurzeltes Fach-Wissen macht dagegen – vielleicht! – einen guten »Spezialisten«, aber niemals einen gebildeten Menschen. – Auch der Begriff und das Ideal der »Allgemeinbildung«, die meist als Gegenbild des spezialistischen Wissens verstanden wird, entspricht nicht ohne weiteres unserer Forderung echter, totaler Bildung. Die Grenzen, die den landläufigen Begriff der Allgemeinbildung von unserem Bildungsbegriff scheiden, werden jedoch erst deutlicher sichtbar, wenn vorher noch einige andere Sachverhalte geklärt sind.
Seitdem durch Christus dem Menschen in der Offenbarung neue Dimensionen der Gesamtwirklichkeit erschlossen sind, kann es einen wirklichen Total-Überblick über die Seinswelt nicht mehr geben ohne den Glauben. Das ergibt sich unmittelbar und zwingend aus dem Begriff des Total-Überblicks. Und zwar um so mehr, wenn man bedenkt, daß die Offenbarung vor allem den Seinsgrund gerade der Totalität des Universums erhellt; denn das »Wort«, durch welches »das All gemacht ist« (Joh 1, 3), ist das schöpferische und absolut einfache Ur-Bild der ge|samten
321 Wirklichkeit. – Wenn es aber ohne den Glauben keinen Total-Überblick mehr gibt über die dem Menschen real erschlossene Gesamtwirklichkeit, dann gibt es ohne den Glauben auch keine echte Bildung; denn das Wesen der Bildung liegt, wie wir sahen, im Total-Überblick über die Gesamtheit des Seienden. – Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß – nachdem Gott in Christus sich geoffenbart hat – ein ungläubiger Mensch nicht im echten und vollen Sinn gebildet sein kann; ein gebildeter Heide ist unmöglich geworden.[15] Es wurde gesagt, Bildung sei die Ausgeformtheit der erkennenden Geist-Seele. Erkennen und Wissen aber haben nicht nur eine Weise. Nicht meinen wir hier den Unterschied zwischen Glauben und Wissen; (denn auch der Glaube ist ja – als besondere Form des Gewahrwerdens einer Wirklichkeit – eine Weise des Erkennens und Wissens). An dieser Stelle ist etwas anderes gemeint, nämlich der Unterschied von theoretischer und praktischer Vernunft, von theoretischem und praktischem Wissen.
Theoretisches Wissen ist ein Wissen darum, daß etwas ist und wie etwas sich verhält; praktisches Wissen ist ein Wissen darum, daß etwas getan werden muß und wie es getan werden muß. Theoretisch ist das Wissen um das, was ist; praktisch ist das Wissen um das, was sein soll. – Beide Weisen des Wissens sind eng miteinander verbunden: praktisches Wissen gründet in theoretischem Wissen; »alles Praktische wurzelt in einem Theoretischen und setzt es voraus«, sagt die Scholastik. Erst aus dem, was ist, ergibt sich, was sein soll. Und wie das Sollen im Sein, so ist die Sollenserkenntnis in der Seinserkenntnis gegründet.
Echte Bildung ist nun durchaus auch ein Gegenwärtighaben dessen, was sein soll, was man tun soll und wie man es tun soll. Bildung ist also nicht nur theoretisches, sondern auch praktisches Wissen. Der gebildete Mensch ist nicht nur »wissend«, |
322 sondern auch »klug«; Klugheit meint nämlich – als recta ratio agibilium – ein, wie Thomas sich ausdrückt, »dirigierendes« Wissen, das auf das Tun bezogen ist. – Nicht nur die Seinsordnung des Universums soll sich in die Seele einzeichnen, sondern auch die Ordnung seiner Ursachen. Unter den Ursachen aber nehmen die Zweck-Ursachen, d.i. die den Willen bewegenden Ziele, die erste Stelle ein. Und wer demnach »Zweck-Ursache« sagt, der sagt auch »menschliches Handeln«, das stets durch Zweck-Ursachen »bewirkt« wird. Das Wissen um die Ursachen des Universums schließt also ein Wissen um die Zwecke der menschlichen Handlungen ein, und damit ein Gegenwärtighaben dessen, was zu tun und zu lassen ist. – Hier wird übrigens die schon erwähnte Hinordnung der Bildung auf die ethische Vollkommenheit besonders deutlich sichtbar.
Unsere Bestimmung der totalen Bildung muß also noch etwas genauer gefaßt werden: Gebildet ist, wer sich auf Grund eines Total-Überblicks in der Gesamtwirklichkeit wissend und wertend zurechtzufinden vermag; wer weiß, wie es sich mit der Wirklichkeit im Ganzen verhält und wer auf Grund dieses (theoretischen) Total-Wissens auch gegenwärtig hat, was zu bejahen und was zu verneinen, was zu tun und was zu lassen ist.
Es sei noch einmal herausgestellt, daß – auf Grund des wesensmäßigen Verhältnisses von theoretischer und praktischer Vernunft – das »Tat-Wissen« aus dem »Seins-Wissen« erwächst. Niemand wüßte, was er tun soll, hätte er nicht zuvor ein theoretisches Wissen um Sachverhalte. Das Fundament – wenn auch vielleicht nicht die Vollendung – der Bildung liegt damit im Total-Überblick über die Seinswelt. Diese Tatsache muß gerade heute, in einer Zeit voluntaristischer Überschätzung der »Praxis«, besonders betont werden.
Es bleibt noch hinzuzufügen: »Tun« meint nicht nur sittliche Selbstgestaltung (agere), sondern auch die Gestaltung der Welt (facere). Der »theoretische« Total-Überblick über die Wirklichkeit ist nicht nur auf die ethische (und politische) Selbstgestaltung, sondern auch auf die künstlerische und technische Weltgestaltung hingeordnet. Hier liegt der berechtigte Kern bestimmter heutiger Forderungen, die den Begriff der Bildung zunächst und zumeist auf den Bezirk des Gestaltens beziehen.

323 Der zentrale Bereich der geschöpflichen Gesamtwirklichkeit ist die Menschenwirklichkeit. Auf sie muß daher echte Bildung vor allem ausgerichtet sein. Die Menschenwirklichkeit aber ist grundlegend anders gebaut als alle übrigen – besonders die untergeistigen – Bereiche der Schöpfung. Und aus dieser unterscheidenden Eigenart der Menschenwirklichkeit ergeben sich ganz bestimmte Folgerungen für den Begriff der totalen Bildung und für die Art und Weise ihrer Verwirklichung.
Das hervorstechendste Merkmal der Menschenwirklichkeit ist ihre Geschichtlichkeit. Obwohl in ihrem allgemeinsten Wesensbegriff über alle Zeiten hin identisch, ist die Menschenwirklichkeit in ihrer konkreten Verwirklichung gebunden an eine nicht umkehrbare Aufeinanderfolge von unwiederholbaren Zuständen, an die Abfolge absolut einmaliger »Augenblicke«, die sich – für das Erleben und für die Betrachtung – zu »Geschichtsabschnitten« zusammenordnen. Das Spätere folgt aus dem Früheren und baut darauf auf, und das Voraufgehende wächst hinein und geht über in das Nachfolgende. Die untergeistige Welt dagegen ist ungeschichtlich. Albert der Große stand als Naturforscher demselben Gegenstand gegenüber wie der moderne Physiker und Biologe. Aber wie sehr hat sich die menschliche Gesellschaft seither verändert. Was etwa Albert über den Apfel, über die Jagdmethode der Spinne oder über die Anatomie der Biene sagt, trifft entweder auch für unsere »zeitgenössischen« – die Unangemessenheit dieses Ausdrucks ist aufschlußreich! – Äpfel, Bienen und Spinnen zu, oder es war auch schon damals falsch. Aber der konkrete Gegenstand und Ausgangspunkt der Soziologie seines Zeitgenossen Thomas von Aquin – die Struktur der Stadt, das Staatsleben, die Wirtschaftsverfassung, das Lehns- und Ritterwesen, die Rechtsverhältnisse – all das ist heute fundamental verändert; die (empirische) Soziologie der mittelalterlichen Gesellschaft hat keine Gültigkeit mehr für die moderne Gesellschaft (obwohl diese auf jene zurückgeht und sie voraussetzt).
Aus dieser Eigentümlichkeit – der Geschichtlichkeit – der Menschenwirklichkeit, die, wie gesagt, der zentrale Gegenstand der Bildung ist, ergeben sich zwei wichtige Folgerungen:
Erstens schließt der Total-Überblick über die Menschenwirklichkeit das Wissen um ihre Geschichte ein. – Das dem natürlichen Erkenntnisvermögen erreichbare Wissen um die |
324 Menschheitsgeschichte vollendet sich aber in dem übernatürlichen Wissen um die »Heilsgeschichte« und um den tiefsten Sinn aller Geschichte als des »in der Zeit sich entwickelnden ewigen Planes Gottes mit der Menschheit, sich in ihr durch Christum eine würdige Verehrung und Verherrlichung zu bereiten, hervorgegangen aus freier Huldigung des Menschen selbst« (Joh. Ad. Möhler).[16] Zweitens: Da die Menschenwirklichkeit nur im jeweils gegenwärtigen Augenblick und Geschichtsabschnitt eigentlich und aktuell wirklich ist, da also die wirkliche Menschenwirklichkeit vom erkennenden Subjekt nur in ihrer jeweiligen – augenblicklichen und epochalen – Gegenwärtigkeit erreicht wird, ist echte Bildung, die ja Überblick über die »wirkliche« Wirklichkeit ist, erstlich auf die Gegenwart bezogen. Und auch das historische Wissen ist hingeordnet auf das Verständnis der Gegenwart.
Diese Gegenwartsbezogenheit echter Bildung ergibt sich jedoch nicht nur aus der Wesenseigentümlichkeit der Menschenwirklichkeit als ihres zentralen Gegenstandes, sondern ebenso sehr aus dem Wesen ihres Subjekts, des lebendigen Menschen. –
Wir sagten, echte Bildung sei nicht nur Wissen vom Seienden, sondern auch Wissen vom Seinsollenden, »Tat-Wissen«, Klugheit. – Menschliches Tun aber ist verpflichtet hineingebunden in das Hier und Jetzt; es ist zwar ausgerichtet auf »ewige« und über alle Zeit hin wesensgleiche Ziele, aber diesen Zielen muß es »in« und »gemäß« der jeweils gegenwärtigen »Situation« dienen. Situationsgemäße Verwirklichung eines wertvollen Zieles – darin liegt das Wesen des sittlich guten Handelns. Die ewige Idee der Gerechtigkeit etwa verlangt in einer Epoche ständisch-städtischer Sozialverfassung eine andere Verwirklichung als in der kapitalistischen Verkehrsgesellschaft. – Natürliche Voraussetzung situationsgerechten Handelns ist aber die Erkenntnis der jeweils gegenwärtigen Situation, das heißt: die Klugheit, »ohne die keine Tugend Tugend ist«.[17] Der Akt der Klugheit nämlich ist im Grunde nichts anderes als die zur »dirigierenden Erkenntnis« gewordene Situation selbst.
325 So ist die Gegenwartsbezogenheit echter Bildung begründet sowohl im Wesen ihres zentralen Gegenstandes, in der Geschichtlichkeit der Menschenwirklichkeit, als auch im Wesen ihres Subjekts, des »geschichtlichen«, hier und jetzt sich entscheidenden Menschen.
Der Inhalt totaler Bildung ist also je nach der geschichtlichen Zeit verschieden. – Zugleich kann hier angemerkt werden, daß auch die übrigen Strukturseiten der Erziehung – Führung und Pflege der gestalterischen Kräfte – geschichtlich bedingt sind. Erziehung ist immer ausgerichtet und geschieht stets auf das im Volke geltende Menschenbild sowie auf das geltende »politische« Richtbild der Volksgestaltung und Volksordnung hin. Erziehung ist damit immer in einem bestimmten Sinne abhängig von der Politik, insofern nämlich, als der Nachwuchs zu den politischen Aufgaben erzogen werden muß, welche die Verwirklichung des »gemeinen Nutzens« stellt. Da nun aber der gemeine Nutzen immer eine ganz konkrete, durch die politische Situation des Volkes bestimmte historische Gestalt hat, so erhält auch das Richtbild der Erziehung natürlicherweise stets eine ganz konkrete, also in einem gewissen Spielraum veränderliche Gestalt. Diese Veränderlichkeit bezieht sich sowohl auf die Inhalte der einzelnen Erziehungsfunktionen (Bildung, Führung, Pflege der gestalterischen Kräfte) als auch auf deren Zusammenordnung und Akzentuierung. – Die Veränderlichkeit der Inhalte und die je verschiedene Akzentuierung der einzelnen Erziehungsfunktionen erschüttert aber nicht im mindesten die Notwendigkeit der Totalität der Bildung. Jede Gegenwart braucht den Total-Überblick über die Wirklichkeit.
Mit dem Moment der Geschichtlichkeit hängt eng zusammen ein anderes Merkmal der Menschenwirklichkeit: daß sie nicht in unmittelbarer Allgemeinheit, sondern nur in der Art-Besonderung der Völker verwirklicht ist; daß die konkrete Verkörperung der Menschenwirklichkeit in der Geschichte »das Volk inmitten der Völker« ist. – Auch diese Tatsache ist bedeutungsvoll für die Wesensbestimmung wie für die Verwirklichung echter Bildung. Aus ihr ergibt sich vor allem, daß der Total-Überblick über die (Menschen)-Wirklichkeit sich natürlicherweise von der eigenvölkischen Wirklichkeit her entfaltet. Zudem: wenn totale Bildung »Tat-Wissen« miteinschließt, und wenn »Tat-Wissen« vorzüglich auf das Hier und Jetzt bezogen ist, dann |
326 ist zu sagen: dieses »Hier« ist entscheidend bestimmt durch die völkische Wirklichkeit, in die der Handelnde eingefügt ist; die Situation des eigenen Volkes ist die natürlicherweise entscheidende »Tat-Umwelt«, die also auch an erster Stelle in die (»dirigierende«) Erkenntnis des handelnden Menschen gehoben werden muß. – Anderseits würde die – übrigens notwendig künstliche – Einengung des Blickfeldes auf die eigenvölkische Wirklichkeit der Forderung des Total-Überblicks und damit dem Wesen der Bildung widersprechen; »das Volk inmitten der Völker« ist, wie wir sagten, die konkrete Gestalt der Menschenwirklichkeit.
An dieser Stelle kann eine abgrenzende Bemerkung über den Begriff der »Allgemeinbildung« eingefügt werden. Die landläufige Bedeutung dieses Begriffes enthält das Moment des Konventionellen; er meint das, was »man« über das spezialistische Fach-Wissen hinaus zu kennen sozusagen »gesellschaftlich« verpflichtet ist. So teilt der verbindliche Inhalt der »Allgemeinbildung« in etwa das Schicksal »gesellschaftlicher« Formen und Sitten überhaupt: Er verliert mit der Zeit seinen unmittelbaren Sinn, aber er behält die konventionelle Verbindlichkeit. Vor allem von der Forderung der Gegenwartsbezogenheit echter Bildung her erheben sich also die entscheidenden Einwände gegen den landläufigen Begriff der »Allgemeinbildung«: sie bedeutet oft genug die (vielleicht ehemals echte) Bildung der vergangenen Generation[18]. – Selbstverständlich richtet sich dieser Einwand nur gegen den Begriff der Allgemeinbildung, wie ihn der Sprachgebrauch des Alltags versteht. Rein abstrakt betrachtet, stünde natürlich nichts im Wege, »Allgemeinbildung« inhaltlich im gleichen Sinne wie »totale Bildung« zu bestimmen.
Fassen wir also abschließend die begrifflichen Wesensmerkmale der echten, d.i. der totalen Bildung zusammen: Bildung – als Ausgeformtheit der erkennenden Geist-Seele – ist der vom Glauben durchhellte Total-Überblick über die Gesamtheit des Seins. Dieser »theoretische« Total-Überblick ist hingeordnet auf die Umprägung in das Tat-Wissen ethischer Selbstverwirklichung |
327 und künstlerischer wie technischer Weltgestaltung. Bildung ist erstlich auf die Gegenwart bezogen und entfaltet sich natürlicherweise von der eigenvölkischen Wirklichkeit her.

[1] Bildung als Vorgang ist von Anfang an wohl zu unterscheiden von Erziehung. Erziehung ist der weitere Begriff; er schließt Bildung ein. Aber außer der Bildung umfaßt der Erziehungsbegriff vor allem das erzieherische Führen und die gestaltende Pflege der gestalterischen Kräfte. – Eine Erziehung also, die nur Bildung ist, ist ebenso unvollständig wie eine, die sich erschöpft in der Pflege der gestalterischen Kräfte oder, was eine aktuellere Gefahr zu sein scheint, in der Führung und in der Vermittlung einer »Haltung« (Zucht, Disziplin usw.). Alle diese Dinge sind notwendig, aber keines kann ohne das andere gesund wachsen.[2] Wie stark diese ursprüngliche Bedeutung des Wortes Bildung ist, zeigt sich darin, daß sie sich selbst gegen ausdrücklich anders lautende Definitionen durchsetzt. So hat man vergebens versucht, den Begriff der Bildung in gleicher Weise dem Erkennen und dem Wollen zuzuordnen. Eggersdorfer z.B. sieht bei seiner Bestimmung der Bildung als Person-Zustand in einer »gehobenen Form des Wollens sogar das letztbestimmende, ›konstitutive‹ Merkmal der Bildung«; aber wenige Abschnitte weiter, wo er Bildung als Vorgang, als Bilden und Gebildetwerden umschreibt, muß er die »intellektualistische Einengung des Begriffes« auf das »Aktgefüge des Lehrens und Lernens« für »notwendig« erklären (Art. Bildung; in: Lexikon der Pädagogik der Gegenwart (Hrsg. J. Spieler), Freiburg 1930, Sp. 352ff.).[3] Es wurde gesagt, durch die geistige Seele sei der Mensch, was er ist. Aber die geistige Seele ist nicht schon der ganze Mensch. Die Seele ist ihrem Wesen nach innere Form des Leibes (anima forma corporis), und erst das Ineinander von formender Seele und durchformtem Leib ist der ganze Mensch.
Ist dann also nicht erst der Mensch wirklich »ausgeformt« und »gebildet«, dessen Seele nicht nur wissend und weise ist, sondern auch in einem schönen, gesunden und kräftigen Körper wohnt? – Ohne Zweifel gehören körperliche Schönheit, Kraft und Gesundheit als echte Güter zur vollen Entfaltung des menschlichen Wesensbildes dazu. Das wird durch die Lehre von der Auferstehung und Verklärung des Leibes sogar für den Bereich des übernatürlichen Lebens bestätigt. Gleichzeitig aber legt gerade diese Lehre den Gedanken nahe an die zerstörerischen Folgen der ersten Sünde, vor allem an den leiblichen Tod, den Inbegriff der Verneinung von Schönheit, Kraft und Gesundheit. – Wenn man also die absurde Folgerung vermeiden will, daß mit dem sinkenden Mannesalter auch die Ausgeformtheit der menschlichen Wesensform stetig verfalle, dann wird man gut daran tun, den Namen Bildung mit dem Sprachgebrauch der Ausgeformtheit der erkennenden Seele vorzubehalten. – Soweit nicht unmittelbar die organischen Fundamente des geistigen Lebens betroffen sind, hindern Mißgestalt, Schwäche und Krankheit des Körpers den Menschen nicht, im echten Sinne gebildet, geschweige denn heilig zu sein. Darin erweist sich die seinsmäßige Überlegenheit der formenden Geist-Seele über den durchformten Stoff, die übrigens gerade in jenem Satze »anima forma corporis« ausgesprochen ist. Dieser Sachverhalt muß besonders heute unterstrichen werden.[4] Th. v. Aquin, C. G. IV, 11. – Der Biologe Hans André hat diesen Gedanken des hl. Thomas in einer vorzüglichen kleinen Schrift auseinandergelegt: Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und Mensch. Eine moderne Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas von Aquin, Habelschwerdt (Franke) 1924.[5] Th. v. Aquin, I, 57, 1 ad 2.[6] Ebd.[7] I, 78, 1.[8] »Beziehung« wird hier, wie aus dem Zusammenhang ohne weiteres ersichtlich ist, nicht im Sinne der »sozialen Beziehung« verstanden. Die »soziale« Beziehung ist – wechselseitige oder einseitige – Beziehung zwischen Subjekten als Subjekten.[9] Ver. 1, 1.[10] Über die Seele III, 8; 431 b.[11] I, 14 1; I, 80, 1. – Ver. 1, 1; 2, 2.[12] Die in jenem Aristoteles-Satz ausgesprochene Identität von geistiger Seele und Gesamtwirklichkeit ist nur verständlich aus der thomistischen (und aristotelischen) Erkenntnistheorie. Es ist nicht möglich und auch nicht notwendig, hier darzulegen, wie diese »Identität« aufzufassen ist; daß sie nicht im landläufigen Sinne verstanden sein will, drückt schon das Beiwort quodammodo (»gewissermaßen«) aus. Wir verweisen für diese Zusammenhänge auf J. Pieper, Die |
Wirklichkeit und das Gute nach Thomas von Aquin, Münster (Aschendorff) 19343 (in: Werke, Bd. 5, S. 48-98).[13] Ver. 2, 2.[14] »Der Mensch sehnt sich danach, ein Ganzes und Vollkommenes zu erkennen« ( I, II, 32, 2). – »Das Ganze freut mehr als das Einzelne, wenn wir des Ganzen gewahr werden können« (Confessiones 4, 11).[15] Thomas bringt denn auch die – gewiß mehr »philosophische« als »theologische« – Aussage, die Vollkommenheit der erkennenden Geist-Seele bestehe darin, daß sich in sie die ganze Ordnung des Universums einzeichne, in den engsten Zusammenhang mit der übernatürlichen Vollendung der Seele in der Anschauung Gottes: »Was schauen die nicht, die Den schauen, Der alles schaut!« (Ver. 2, 2; die angeführte Stelle ist ein von Thomas zitierter Satz Gregors des Großen).[16] Von dem christlichen Begriffe der Geschichte; neu abgedruckt in: Der katholische Gedanke 6 (1933), S. 167-174.[17] Th. v. Aquin, II, II, 51, 2.[18] Die Gefahr realitätswidriger Erstarrung ist mit jedem Versuch verbunden, einen »kanonischen« Bestand von Bildungsgütern konkret und im einzelnen festzulegen. Und es ist gut, bei derartigen programmatischen Kanonisierungen – auch die Prägung »deutsche Bildung« ist oft so gemeint – diese Gefahr im Auge zu behalten.

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