Josef Pieper: Das Gespräch als Ort der Warhheit (1955)

Wahrheit kommt, als menschliche Realität, einzig im Gespräch zustande. Dies sagt Platon in seinem berühmten Siebten Brief, in dem er zurückblickt auf ein langes Leben des Lehrens und Schreibens. Ich will versuchen, in wenigen Worten zu sagen, was hiermit, so wie ich es verstehe, gemeint sein mag.
Es ist erstens von der Wahrheit die Rede, auf die es im Philosophieren abgesehen ist, von der Wahrheit also über das Ganze der Wirklichkeit und über den Sinn des menschlichen Daseins insgesamt. Es ist die Wahrheit gemeint, die weise macht. Keine von den Einzelwissenschaften kann diesen Anspruch erheben, weise und schlechthin »wissend« zu machen. Gelehrtheit und Tüchtigkeit sind etwas anderes als Weisheit. Nun macht zwar auch die Philosophie nicht eigentlich weise; aber es ist »Weisheit«, worauf das Philosophieren als »liebende Suche« zielt. Und die Einsicht, in welcher uns jene Weisheit, wenn auch ganz von weitem und wie etwas nicht endgültig Besitzbares, zu Gesicht kommt – diese Einsicht, das ist Platons Meinung, geschehe und verwirkliche sich einzig im Gespräch. Wie durch einen überspringenden Funken entzünde sich unversehens in der Seele ein Licht: wenn Menschen wieder und wieder »um der Sache willen« sich zusammenfänden und miteinander sprächen.
Diese Behauptung ist so gemeint, daß sie zweierlei ausschließt. Sie richtet sich zunächst gegen die Meinung, diese Art Wahrheit könne im geschriebenen Wort eigentlich zu Hause sein. Schreiben und Lesen sind nach Platons Meinung nicht die Formen, in denen Wahrheit als menschliche Realität sich primär verwirklicht. Das ist eine einigermaßen verwunderliche Rede im Munde eines Mannes, der sicher über fünfzig Jahre durch das geschriebene Wort gewirkt hat! Das Verwunderlichste aber ist, daß dieser gleiche Mann darauf besteht: es gebe über die Dinge, an denen ihm gelegen sei, nichts Schriftliches |
2 von seiner Hand. Und wer etwa versuche, das im tiefsten Ernst Gedachte schriftlich zu äußern, dessen Herz müsse »zugrundegerichtet« sein, freilich nicht von den Göttern, sondern von den Menschen.
Platons Wertschätzung des Gesprächs richtet sich ferner gegen die monologische Rede – gegen etwas also, woran wir uns im Lehrbetrieb völlig gewöhnt haben. Immer wieder beschwört Sokrates seine sophistischen Gesprächspartner: Haltet keine Rede, sondern versteht euch dazu, ein Gespräch mit uns zu führen! – Es läßt sich nun freilich zeigen, daß Platon und Sokrates dabei nicht eigentlich das bloße äußere Faktum des »Allein-Sprechens« im Auge haben, sondern das innerlich »partnerlose« Sprechen, in welchem der Redner nur sich selbst »in Szene setzt«, während der Zuhörer nicht als gleichberechtigtes Gegenüber anerkannt, sondern entweder einfach ignoriert oder zum bloßen »Objekt« einer »Einwirkung« erniedrigt wird.
Ich glaube nicht, daß man diese sehr zugespitzten und wohl von Platon auch so gemeinten Formulierungen einfachhin als »wahr« gelten lassen sollte; aber es lohnt sich, sie aufs ernsteste zu bedenken – als einen Beitrag zum Thema »Gespräch«.

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